15. September 2016 2 Likes

Wer bin ich und wenn ja, auf welcher Seite?

Algis Budrys’ Science-Thriller „Zwischen zwei Welten“ dreht sich um die grundlegenden Fragen der eigenen Identität

Lesezeit: 3 min.

Was macht einen Menschen eigentlich zu dem, der er ist? Seine Arbeit? Familie und Freunde? Das Aussehen? Der Ort, an dem man geboren wurde? Und wie soll ein Mensch damit umgehen, wenn ihm alles, worüber er sich definieren könnte, radikal entzogen wird? Der Physiker Dr. Lucas Martino sieht sich mit diesen Fragen konfrontiert, als er nach einer Explosion in seinem streng geheimen Forschungslabor wieder zu sich kommt – in einem Krankenhaus auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Nach umfassenden chirurgischen Eingriffen wird Martino an den Westen zurückgegeben. Doch der Mann, den Agent Shawn Rogers an der Grenze abholen soll, ist nicht wiederzuerkennen: ein Arm wird von einer Robotprothese ersetzt, statt Herz und Lungen erfüllen nun kleine Kraftwerke ihre Funktion, und sein Kopf steckt in einem Metallbehälter, bei dem Sensoren Augen und Ohren ersetzen. Wie soll Rogers herausfinden, ob er wirklich Martino vor sich hat? Und selbst wenn der Metallmann Martino ist, wie soll er sicherstellen, dass Martino aus lauter Dankbarkeit für seine Lebensretter nicht zum Überläufer geworden ist?

Algis Budrys: Zwischen zwei WeltenDie Antwort ist einfach: gar nicht. Martinos geheimes Forschungsprojekt wird eingestellt, der Wissenschaftler nach intensiven Befragungen in die Freiheit entlassen, wo er rund um die Uhr von Rogers Agenten beobachtet wird. In New York versucht Martino alles, um seine eigene Identität wiederzugewinnen. Einst definierte er sich über seine Arbeit, doch die wurde ihm genommen. Seine Familie ist seit Jahren tot, sein Aussehen so radikal verändert, dass ihn seine Exfreundin nicht wiedererkennt. Seine Mitmenschen verfallen bei seinem Anblick in Panik. Er muss nicht nur das Trauma der Explosion verarbeiten, sondern wurde offenbar auch gefoltert. Wurde er gehirngewaschen? Nicht einmal Martino ist sich noch sicher, dass er Martino ist.

„Zwischen zwei Welten“ (im Shop) ist ein atmosphärisch dichter, melancholischer Roman, der grundlegende Fragen zur Identität eines Menschen stellt - und keine befriedigende Antwort darauf parat hat. Der in Königsberg, Ostpreußen geborene Algis Budrys veröffentlichte ihn 1958, als er gerade einmal 27 Jahre alt war. Als Flüchtling vor den Nazis kam er 1936 in die USA. Sein Vater war litauischer Generalkonsul; im Dienst für ein Land, das es ab 1940 nicht mehr gab. Algis Budrys wurde staaten- und heimatlos, als er neun Jahre alt war, und das Gefühl der Entwurzelung, der Herausgerissen-seins und der Einsamkeit zieht sich durch all seine Romane. „Zwischen zwei Welten“ lässt den Protagonisten an den Grundfesten der eigenen Identität zweifeln. Er ist kein Fremden in einer fremden Welt, er wird zum Fremden im eigenen Kopf.

Heute ist „Zwischen zwei Welten“ technisch überholt. Würde den Behörden ein moderner Martino überstellt, würde man einfach einen DNS-Test durchführen. Aber die Grundfragen nach der eigenen Identität, die Budrys hier stellt, können von keiner noch so modernen Technik beantwortet werden. Das macht „Zwischen zwei Welten“ zu einem Klassiker, der bis heute aktuell ist und es auch weiterhin bleiben wird.

Algis Budrys: Zwischen zwei Welten • Roman • Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton • Wilhelm Heyne Verlag, München 2016 • E-Book • € 2,99 • im Shop

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