13. Juli 2019

Die Republik des Metro-Centres

J.G. Ballards letzter Roman „Das Reich kommt“ verbindet Konsum, Faschismus und Wahn

Lesezeit: 4 min.

„Die Vorstädte träumen von Gewalt“: Ein überdimensionales Einkaufszentrum, ein Toter und sich langsam ausbreitende Unruhen, die sich vor allem gegen Immigranten richten – das ist die Grundkonstellation von J.G. Ballards letztem Roman „Das Reich kommt“. Der Autor entwirft eine überraschend gegenwärtige Vision, in der ein überbordender Konsumismus als Blaupause für die faschistischen Staaten der Zukunft dient. Im Zentrum: Eine sich zunehmend aggressiv und irrational gebärdende Mittelschicht, die den letzten Halt zu verlieren droht.

Jenseits von Heathrow liegen die Imperien des Konsums. Umgeben von Autobahnzubringern und endlosen Reihenhaussiedlungen am Rand von London hat sich das Metro-Centre etabliert, eine Shoppingmall mit gigantischen Verkaufsflächen. Genau dort wurde der Vater von Richard Pearson ermordet, einem arbeitslosen Werbefachmann, der nun versucht, Klarheit über das Verbrechen zu erlangen. Rasch kommt es zu beunruhigenden Entwicklungen. Zwar wurde der Täter gefasst, doch da wichtige Zeugen ihre Aussage zurückziehen, muss er auf freien Fuß gesetzt werden. Dann entdeckt Richard, dass sein Vater nicht nur auffällig viel Material zum Rechtsextremismus gesammelt hatte, sondern auch Kleidungsstücke mit den Insignien jener Bewegung besaß, die unter dem Deckmantel von Sportereignissen regelmäßig randaliert und Immigranten bedroht. War er in die aggressiven Ereignisse verwickelt? Und welche Rolle spielt der Schauspieler David Cruise, der als Aushängeschild und Ikone des Metro-Centres fungiert und sich zunehmend besser auf die Manipulation der enthusiastischen Einkäufer versteht? Obwohl Richard beinahe das Opfer einer Bombenexplosion wird, lässt er sich darauf ein, als Cruises Medienberater zu arbeiten. Dessen Ziel ist es offenbar, das Metro-Centre zu einer eigenen Republik zu machen – ein beängstigendes Vorhaben, das rasch Gestalt annimmt.

Ballards 2006 erschienener Roman „Kingdom Come“ – der Titel ist eine Anspielung auf das Vaterunser – trägt zwar dystopische Züge, handelt aber eigentlich von einer „Großen Katastrophe“. Die Werke dieses SF-Subgenres haben den Vorteil, ebenso spektakulär wie unwahrscheinlich zu sein; umso behaglicher kann man sich im Kinosessel zurücklehnen, wenn Außerirdische, Meteoriteneinschläge oder drastische Klimaentwicklungen die Menschheit bedrohen. Ballard hingegen setzt auf ein Szenario, das so dicht an unsere Alltagsrealität anschließt, dass es mit dieser zu verschmelzen scheint. Was sich hier entwickelt, ist ein soziales Desaster, nämlich das allmähliche Hinübergleiten des Mittelstands in Totalitarismus und Wahn. Einerseits schildert der Roman eine sinnentleerte Welt, in der endlose Reklametafeln das Kulturleben ersetzt haben und die schwerste moralische Entscheidung im Erwerb eines Kühlschranks oder einer Wachmaschine besteht, andererseits zeigt er auf, wie aus Übersättigung irrationale Haltungen erwachsen, die ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zu kontrollieren sind. So äußert eine der Figuren: „Die Zukunft wird ein Kampf zwischen riesigen Systemen konkurrierender Psychopathien sein, allesamt gewollt und bewusst, Teil eines verzweifelten Versuchs, einer rationalen Welt und der Langeweile des Konsumismus zu entfliehen.“ Die hierbei auftretenden totalitären Tendenzen würden früher oder später ein Abkippen des Gemeinwesens in einen faschistischen Staat unausweichlich machen. Dies ist sehr provokativ formuliert, aber es überkommt einem bei der Lektüre des alles andere als altersmilden Buchs der Eindruck, dass Ballard Tendenzen seiner Zeit aufgegriffen hat, die sich unterdessen verstärkt haben.

Doch „Das Reich kommt“ ist nicht allein ein düsteres Menetekel über die irrige Vorstellung, „dass alles Gute einen Barcode hat“. Es ist auch und in erster Linie eine spannend erzählte Geschichte über einen Mann, der sich zumindest eine Zeitlang eher mit der Katastrophe zu arrangieren versucht, anstatt dagegen anzugehen. Diese Referenz an Ballards frühe SF-Romane „The Drowned World“ (1962; dt. „Karneval der Alligatoren“ bzw. „Paradiese der Sonne“), „The Burning World“ (1964; dt. „Welt in Flammen“ bzw. „Die Dürre“) und „The Crystal World“ (1966; dt. „Kristallwelt“) verblüfft angesichts der auf den ersten Blick gänzlich anderen Thematik, zeigt aber nur ein weiteres Mal auf, wie kohärent sein Erzähluniversum bis zuletzt geblieben ist. Und: Auch dieses Buch punktet mit einprägsamen sprachlichen Bildern, wenn etwa die Kuppel des Einkaufszentrums an das Glimmen eines „Reaktorkerns“ erinnert, während das silbrige Dach des Gebäudes die umliegenden Häuser und Hotels „wie der Rumpf eines riesigen Luftschiffs“ überragt. Hier zeigt sich der 2009 verstorbene Autor ein letztes Mal auf der Höhe seiner Kunst.

Mit „Kingdom Come“ legt Ballard nicht nur seinen insgesamt letzten Roman vor, er hat damit auch jene Schaffensphase abgeschlossen, deren Werke sich – im Unterschied zu seinen Science-Fiction-Arbeiten – nur hauchzart neben der Wirklichkeit ansiedeln. Es geht um Gesellschaftssysteme, die scheinbar wohlgeordnet sind, tatsächlich aber einer „mörderischen Instabilität“ (Hans Frey) unterliegen. „Millenium People“ (2003) ist bei Diaphanes bereits erschienen, „Super-Cannes“ (2000) folgt im Frühjahr 2020, und „Cocaine Nights“ (1996) dürfte ebenfalls nicht mehr lange auf sich warten lassen. Ballard wurde früher vielfach ins Deutsche übersetzt, dann aber zunehmend vergessen. Selten ist eine Wiederentdeckung so dringend nötig und zugleich so erfreulich wie in diesem Fall.

 

J.G. Ballard: Das Reich kommt • Roman • Aus dem Englischen von Eike Schönfeld • Diaphanes Verlag • € 20 • E-Book • € 17,99

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