Eine Reise durch das atomare Zeitalter
Fred Pearce’ Sachbuch „Fallout. Das Atomzeitalter – Katastrophen, Lügen und was bleibt“
Hat die viel gelobte TV-Serie „Chernobyl“ über das Unglück von Tschernobyl, die 2019 ausgestrahlt wurde, uns wirklich wieder intensiver über die Risiken von Kernkraft nachdenken lassen? Oder war das Interesse lediglich ein kurzes Aufflackern, eine kleine Explosion? Das just erschienene Sachbuch „Fallout. Das Atomzeitalter – Katastrophen, Lügen und was bleibt“ aus der Feder des preisgekrönten britischen Journalisten Fred Pearce bietet nun die nächste Gelegenheit für einen Denkanstoß.
Pearce’ literarische Reise durch das atomare Zeitalter beginnt mit den Bemühungen Amerikas, Großbritanniens und Russlands, die erste Atom- bzw. Wasserstoffbombe zu bauen. Die hässlichen Blüten – oder viel mehr: Atompilze – dieses Wettrüstens in Hiroshima und Nagasaki schildert Pearce ebenso eindringlich wie die Skrupellosigkeit der russischen Obrigkeiten, die es hinnahmen, dass auf dem Weg zu ihrer Bombe ganze Dörfer verstrahlt wurden. Doch Pearce’ Streifzug zu den Mahnmalen der nuklearen Ära führt auch an die Küste Englands oder in den Schatten der Rocky Mountains, wo die Bevölkerung über Unfälle in Nuklearanlagen jeweils im Unklaren gelassen wurde, derweil sich heute im Großraum Denver viele kein Stück an den Silos im Erdreich stören, in denen die Atomraketen der Supermacht schlummern – während andere ein vermutlich-vermeintlich verseuchtes Gelände wegen seiner unberührten Wildnis am liebsten zum Naturpark erklären und für alle öffnen würden. Zumal selbst die Wälder und Dörfer um Tschernobyl, in die viele Menschen eigenmächtig zurückkehren, ein wahres Naturparadies zu sein scheinen. Von einem Paradies kann in der Umgebung von Fukushima, einem in Panik verlassenen und heute wie ausgestorbenen Areal, dagegen keine Rede sein. Ganz zu schweigen davon, dass die Entsorgung der langlebigen radioaktiven Rückstände, der Atomausstieg oder das immer wieder verschleppte atomare Abrüsten riesige Probleme unserer Moderne darstellen.
Geheimhalten, Schönreden, Vertuschen, Leugnen, Ignorieren, Verpfuschen – das Feld des atomaren Strebens war schon ab den 50ern eine Brutstätte für Fehlentscheidungen und frühe Fake News. Das Vertrauen fehlt daher im selben Maße, wie das Thema seit jeher polarisiert. Ob Politiker, Wissenschaftler oder Aktivist, ob überzeugter Befürworter, akademischer Gutachter oder panischer Gegner: selten decken sich zwei Meinungen, immer gibt es zwei Seiten, ohne dass eine zwangsweise falsch sein muss. Entsprechend schwierig gestaltet es sich, einen Konsens zu finden, den es für Grenzwerte, Vorgaben, Reaktionen auf Probleme, eine Perspektive oder selbst nur eine faire Diskussion sowie Kommunikation bräuchte. Diese auffällige Polarisierung, die häufig zu einer Atomisierung der Wahrheit führt, wird in den sauber recherchierten, gut geschriebenen Kapiteln von Fred Pierce’ Buch mehr als deutlich, die zum Teil auf früheren Vor-Ort-Reportagen des Journalisten beruhen (man merkt es, hin und wieder, am Tonfall, an der Struktur eines Kapitels oder an kleineren Wiederholungen).
Der 1951 geborene Pearce schreibt seit über 30 Jahren für den „New Scientist“, daneben erscheinen seine Texte im „Guardian“ und dem Online-Magazin „Yale e360“. Zudem hat der Londoner Sachbücher wie „Wenn die Flüsse versiegen“ oder „The Coming Population Crash“ veröffentlicht. „Fallout“ ist auf seine Weise ebenfalls etwas reißerisch und irgendwo ein Stück weit Katastrophentourismus in populärwissenschaftlicher Form. Doch zugleich überzeugt Pearce’ komprimiertes, spannendes Portrait des Atomzeitalters, das nicht umsonst einen Großteil des Anthropozän ausmacht, als zugängliche Lektüre im doppelten Sinne: für ich genommen ein aufgeschlossenes, lesenswertes und fesselndes Sachbuch voll ordentlichem Infotainment, das einen guten Überblick bietet – und zugleich ein Zugang, um von hier aus tiefer in die Materie einzutauchen, die nach wie vor beunruhigend viele Frage- und Ausrufezeichen für uns und die Zukunft unseres Planeten bereithält.
Fred Pearce: Fallout. Das Atomzeitalter – Katastrophen, Lügen und was bleibt • Kunstmann, München 2020 • 342 Seiten • Hardcover: € 25
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