Gigantisches Debüt
Sylvain Neuvels riesiger SF-Roman „Giants – Sie sind erwacht“
„Giants – Sie sind erwacht“ von Sylvain Neuvel (im Shop) lädt auf den ersten Blick zum Zweifeln ein. Die meisten Kapitel hinter dem stylishen Cover sehen beim anfänglichen Durchblättern nach Interviews aus, und tatsächlich, bis auf wenige Ausnahmen wie den Prolog wird die Handlung auch komplett in Verhörabschriften, Tagebucheinträgen und anderen Protokollen wiedergegeben. Das ist man nicht unbedingt gewöhnt, und das macht zunächst skeptisch. Doch schon nach zwei, drei Gesprächsprotokollen sind alle Zweifel und alle Skepsis verflogen, und schnell wird einem klar, dass man hier eines der interessantesten Science-Fiction-Bücher des Jahres in der Kur hat …
Sylvain Neuvel ist ein kanadischer Sprachwissenschaftler, Übersetzer und Software-Ingenieur, der in Montreal und Chicago studierte und in seiner Freizeit an einem funktionierenden R2-D2-Nachbau arbeitet und Ewok-Lieder übersetzt. In Neuvels Romanerstling „Giants“, der im englischsprachigen Original erst vor einem Vierteljahr als „Sleeping Giants“ erschienen ist, beginnt alles mit einer riesigen Metallhand und einigen kryptischen Metalltafeln im Boden, die Rose Franklin findet, als sie an ihrem elften Geburtstag mit dem Rad durch den Wald fährt. Fast zwanzig Jahre später soll Rose als leitende Wissenschaftlerin zusammen mit einem handverlesenen Team das ungelöste Geheimnis der Hand lüften, die zu einem uralten, gigantischen Roboter gehört, dessen Teile über den ganzen Globus verstreut sind und dessen Zusammensetzung, Funktionsweise und Bedeutung alles in Frage stellen, was die Menschheit über ihre Geschichte und über das Universum zu wissen glaubt. Im Hintergrund des Projekts, das auf den Schultern von Rose, zwei Kampfpiloten und einem Linguisten ruht, agiert derweil ein mysteriöser Strippenzieher, der jeden Geheimdienst alt aussehen lässt, keine Landesgrenzen respektiert, null Angst vor dem Zorn des US-Präsidenten hat, scheinbar gewaltige Ressourcen mobilisieren kann und das Gelingen des Projekts über das körperliche und geistige Wohl aller Beteiligten stellt – und immer einen Plan B auf Lager hat.
Ein Großteil der Dialoge, die den Plot um den Giganten aus dem All voranbringen, wird mit diesem namenlosen Meister der Manipulation und Intrige bestritten. Diese Gespräche sind ein Vergnügen – und eine echte Überraschung. Einerseits, weil sich die ‚Files’ – die Kapitel – unheimlich erfrischend und knackig lesen. Andererseits, weil es erstaunlich ist, was Neuvel innerhalb seines selbstgesteckten Limits und trotz aller Auslassungen und Beschränkungen alles erreicht: Wie viele persönliche Geschichten und Schicksale er in diesem stilistischen Korsett entwickeln, ja wie viele Figuren er einem näherbringen kann; und wie er die nationalen und internationalen politischen Winkelzüge sowie die tief greifenden Veränderungen in der Welt beschreibt, die mit dem irgendwann ordentlich eskalierenden Geschehen um den Roboter zusammenhängen. Das ist so lässig und vereinnahmend, dass man sich um die eine oder andere Erinnerung an „Pacific Rim“ kein Stück kümmert.
Auf Englisch erscheint die Fortsetzung „Waking Gods“, die man nach diesem Einstand und Auftakt gar nicht erwarten kann, im April 2017. Die Filmrechte am ersten Teil wurden bereits verkauft, was nach der Lektüre niemanden groß verwundern dürfte – genug Spielraum für eine coole Adaption bietet dieses beeindruckende Romandebüt definitiv. Bis sich in Sachen Fortsetzung oder Film etwas tut, kann man „Giants“ schon mal ohne Vorbehalte als einen der Genre-Riesen unter den SF-Neuheiten 2016 verbuchen und weiterempfehlen.
Sylvain Neuvel: Giants – Sie sind erwacht • Aus dem Amerikanischen von Marcel Häußler • Heyne, München 2016 • 416 Seiten • E-Book: 11,99 Euro
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