8. April 2017

Jack Vance über die Schulter geschaut

Ein Aufsatzband charakterisiert den Autor als „Weltenschöpfer und Wortschmied“

Lesezeit: 5 min.

„Ich bin ein etwas schweigsamer Seemann von der Handelsmarine und vierundzwanzig Jahre alt“ – so stellte sich 1945 ein noch völlig unbekannter Nachwuchsautor anlässlich seiner ersten Kurzgeschichtenveröffentlichung in Thrilling Wonder Stories vor. Zu diesem Zeitpunkt konnten weder er noch die Leserschaft ahnen, zu welcher Bedeutung es der stets „Jack“ genannte John Holbrook Vance (1916–2013, im Shop) bringen sollte. Der heute vor allem für seine farbenprächtigen Science-Fiction-Arbeiten bekannte Autor schuf über Jahrzehnte ein völlig eigenständiges Prosawerk, das weltweit gerühmt und in Deutschland noch immer unterschätzt wird. Nun hat Andreas Irle einen wichtigen Materialienband zu Vance zusammengestellt, der sich für Anfänger wie Fortgeschrittene gleichermaßen lohnt.

Jack Vance: Weltenschöpfer und WortschmiedDer Herausgeber ist für die SF-Leserschaft kein Unbekannter. Seit 1995 veröffentlicht er in seiner Edition Andreas Irle Bücher von Vance, zumeist in eigener Übersetzung. Die sorgfältig gemachten Titel – geprägte Leineneinbände, Fadenheftung und ein professionelles Lektorat sind selbstverständlich – haben aufgrund ihrer kleinen Auflage einen etwas erhöhten Preis, lohnen aber den Kauf, denn besser und vollständiger hat man den hierzulande oft gekürzten Vance bislang nicht gelesen. Tatsächlich ist nach Vorbild der Vance Integral Edition, an der Irle mitgearbeitet hat, eine deutschsprachige Komplettausgabe aller Werke des Schriftstellers geplant, von der bereits rund dreißig Bände vorliegen.

Vergleichbare Mühen hat Irle auch in „Weltenschöpfer und Wortschmied“ investiert, ein 500 Seiten starkes Kompendium, das Beiträge aus sechs Jahrzehnten versammelt; die meisten stammen allerdings aus den Jahren nach 1980. Neben gekonnten Werkeinführungen von Franz Rottensteiner und Irle selbst, der eine sehr hilfreiche Einteilung der Prosaarbeiten vornimmt, enthält das Buch in erster Linie Aufsätze, die sich Einzelaspekten widmen. Arthur Jean Cox beispielsweise beschäftigt sich in „Jack Vance – der Welten-Denker“ mit dessen außergewöhnlicher Erfindungsgabe: „In den besten Arbeiten Vances haben wir das Gefühl, dass, nachdem der Held zu einer anderen Szene weitergezogen ist, die Kultur, die Gesellschaft oder der Planet, wo er gerade gewesen ist, weiter existieren wird.“ Cox sieht in dem Erdenken von Welten eine von Vances herausragenden Eigenschaften, zumal dieser die Idee der „anderen Kultur“ vertritt, nämlich die Nützlichkeit der Begegnung mit einer fremden Lebens- und Geistesauffassung. Dieses Thema ist bei Vance durchgehend anzutreffen. Seine eigene Vorstellung der „anderen Kultur“ mag von Europa im Allgemeinen und von Frankreich im Besonderen geprägt worden sein, obwohl es hier offenbar eine Enttäuschung gegeben hat – der 1948 gefasste Plan, nach Frankreich auszuwandern, wurde jedenfalls fallengelassen. In der 1954 erschienenen Novelle „Die Häuser von Iszm“ ist – in allegorischer Lesart – Europa zwar einerseits noch die organische alte Welt, aus der ein Same in den amerikanischen Turbokapitalismus getragen werden kann; es erscheint aber auch, wie Cox herausarbeitet, als Ort der Ideologien, der „Ismen“. An dieser Stelle wird deutlich, wie sich der vermeintliche Unterhaltungsschriftsteller Jack Vance in seinen Werken positioniert, erscheint doch keine seiner Welten besser als die jeweils andere: „Es ist der Kontrast selbst zwischen der aufregenden Freiheit der grenzenlosen Welt auf der einen Seite und dem betulichen heimeligen Reiz eines friedlichen und harmonischen Ortes auf der anderen, der vielen von Vances Werken ihre thematische Spannung verleiht.“

Auch Terry Dowling thematisiert den Kulturgedanken, wenn er Vance eine „Kunst der Xenografie“ zuerkennt, also „das Ausarbeiten und das Erkunden exotischer und fremder Gesellschaften in einer sehr fernen Zeit der Zukunft, wenn die Menschheit sich weit von unserem Planetensystem ausgebreitet hat“. Für Dowling hebt Vance in der Konfrontation mit dem „Anderen“ letztlich „die festen Größen unserer eigenen Natur und Menschlichkeit“ hervor: „Indem er uns die Wunder anderer Welten präsentiert, hilft er uns, die Wunder der Welt, die wir kennen, wertzuschätzen und neu kennenzulernen.“ Sehr viel mehr kann man von Literatur generell nicht verlangen. Weitere der sehr gut lesbaren Aufsätze beschäftigen sich beispielsweise mit dem Motiv der Rache (David Langford), der Rolle der Frau (David Mathew) oder der Frage von Identität, Freiheit und Wille (Russell Letson).

Jack Vance
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Doch der Sammelband behandelt auch das Leben von Jack Vance. In einer „biografischen Skizze“ räumt der Autor beispielsweise ein, dass er nicht zuletzt deswegen Schriftsteller werden wollte, um seine „Wanderlust“ zu befriedigen: „Soweit ich mich zurückerinnern kann, bin ich schon immer von exotischen Zielen fasziniert gewesen: den ‚weit entfernten Orten mit süß klingenden Namen‘.“ Vance berichtet in lockerer Form von seiner Jugend und ersten Leseerlebnissen, von der Zeit als Vollmatrose und seiner Heirat, um schließlich vom Bau eines Hausboots zu erzählen, an dem er gemeinsam mit Poul Anderson (im Shop) und Frank Herbert (im Shop) gearbeitet hat. Bei der ersten Reise lief das Ergebnis aller Bemühungen auf Grund, aber glücklicherweise nur zeitweilig. Auch Vances Frau Norma kommt zu Wort und schildert das gemeinsame Leben aus ihrer Perspektive, das von vielen Besuchen und gemeinsamen Essen mit Gästen geprägt war. Bei ihrer Arbeit an Jacks handschriftlichen Manuskripten – die sie grundsätzlich abtippte und dabei auf Fehler und Ungereimtheiten hin durchsah – hat sie einmal einer Figur das Leben gerettet, die ihr Mann in „Trullion: Alastor 2262“ (1973) eigentlich hinrichten lassen wollte. Kein Wunder, wenn dieser 2009 in seiner Autobiografie „Gestatten: Jack Vance!“ (die natürlich auch in der Edition Andreas Irle vorliegt) berichtet, dass beide als Team gearbeitet hätten. Nach der Lektüre der oft komplexen Vance-Romane kann man sich das in der Tat sehr gut vorstellen.

„Weltenschöpfer und Wortschmied“ endet mit einigen Nachrufen (darunter einer von Gisbert Haefs) sowie einem ausführlichen bibliographischen Apparat, der alle Originalausgaben von Vance und deren deutsche Übertragungen sowohl chronologisch als auch alphabetisch auflistet. Es versteht sich von selbst, dass der ausgesprochen nützliche Band mit einem Titelregister der zitierten Werke ausgestattet ist, was die kontinuierliche Nutzung erleichtert. Auch werden alle Beiträger kurz vorgestellt, mit Ausnahme von Norma Vance, die ausführlich (und auch in Form von Fotos) gewürdigt wird.

Fazit: Besser kann man es nicht machen, und der Preis von 50 Euro ist angesichts der aufgewendeten Mühe kaum mehr als eine Schutzgebühr, zumal es nur 150 nummerierte Exemplare von dem Buch gibt. Aber natürlich kann man das Schmuckstück auch in einigen Jahren zu einem vermutlich astronomischen Preis bei eBay ersteigern – wenn es denn dort überhaupt jemals angeboten wird.

Andreas Irle (Hrsg.): Jack Vance – Weltenschöpfer und Wortschmied Edition Andreas Irle 516 Seiten • Limitierte Auflage von 150 nummerierten Exemplaren € 50,-

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