15. November 2021 2 Likes

„Mount Copenhagen“ von Kaspar Colling Nielsen

Weird Fiction: Ein Mosaikroman über einen künstlichen Berg in Dänemark

Lesezeit: 3 min.

Kaspar Colling Nielsen (im Shop), 1974 in Kopenhagen geboren, gehört zu den aufregenden Stimmen der dänischen Gegenwartsliteratur. 2019 ist seine finstere Zukunftsvision „Der europäische Frühling“ bei Heyne Hardcore auf Deutsch erschienen, jetzt liegt dort mit „Mount Copenhagen“ (im Shop) ein neues Buch von ihm vor, für das er 2010 den Danske Bank First Book Award erhalten hat. Im schmalen Band präsentiert Nielsen auf rund 200 Seiten eine ganz andere Art von visionärer Literatur, Science-Fiction, Fantastik und ja, im Grunde dänischer Weird Fiction: Einen Mosaikroman, dessen Episoden alle um einen künstlichen Berg kreisen. Die Übersetzung stammt von Günther Frauenlob, lesen kann man die Erzählungen wahlweise im schmucken kleinen Hardcover oder im E-Book.

Beim titelgebenden Mount Kopenhagen handelt es sich um einen Berg, der von der dänischen Regierung, Firmen und privaten Investoren errichtet wird. 200 Jahre lang dauert dieses babylonische Unterfangen in Skandinavien, das wegen der vielen nötigen Gastarbeiter selbst die Migrationspolitik Dänemarks verändert. Schließlich thront und trutzt da in Sichtweite Kopenhagens ein von Menschenhand geschaffener Berg mit einer Höhe von 3.500 Metern und auf 590 Quadratkilometern Fläche – das sind, um sich das besser vorstellen zu können, knapp 120.000 Fußballfelder, mitsamt Wäldern, Flüssen und Seen außenherum. Die erbaute Gebirgslandschaft sorgt für einen nie dagewesen Artenreichtum und begünstigt sogar die Entwicklung neuer Tierarten. Aber der Berg verändert auch das Klima in seiner Umgebung. Gleichzeitig wird er zum Ressort der Reichen, die sich hier abschotten. Des Weiteren steht auf Mount Kopenhagen das beste Weltraumteleskop der Welt. Menschen lassen sich operativ in Vogelmenschen verwandeln, Architekten bauen Ghetto-Treppenhäuser nach und simulieren für die betuchten Hausbewohner den Hass und die Gewalt eines anderen Ortes. Ein Junge wird zum dänischen Magneto, ein Priester hat beim Extremmarathon den Berg rauf eine Gotteserscheinung, und ein Mann wird von Aliens besucht, oder vielleicht besser, heimgesucht …


Kaspar Colling Nielsen. Foto © Isak Hoffmeyer

Die satirischen Episoden (zwei der schwarzhumorigen Storys haben sogar ein direktes Sequel), mit denen Kaspar Colling Nielsen seinen Berg sowie dessen Auswüchse und Auswirkungen beschreibt, werden über kleine „Fremdenführertexte“ zusammengehalten und verbunden, die durch ihre Beschreibungen Mount Kopenhagen sehr effektiv lebendig werden lassen und die inhaltliche Grundlage der Storys bilden. In denen verneigt sich Nielsen in jedem Fall vor der langen Tradition knackiger Kurzgeschichten mit nur wenigen Seiten, die in ihrem Ansatz, ihrer Durchführung, ihrem Ton, ihrer Eskalation und ihrer Pointe richtig böse werden können. Es ist eine Kunst für sich, bei der alte Erzähltugenden hochgehalten werden, und Nielsen beherrscht sie, denn ihm genügen wenige Absätze pro Story, um 20 Ideen und Geschichten durchzuexerzieren.

Wer mit Satire arbeitet, muss bei einer Veröffentlichung zehn Jahre nach der Niederschrift sowie dem ursprünglichen Erscheinen fast zwangsläufig den einen oder anderen Cringe-Moment in Kauf nehmen (um mal das Ende Oktober gekürte Jugendwort des Jahres 2021 in diesen Text einfließen zu lassen). Und natürlich will Nielsen auch anecken und provozieren, nicht umsonst wird er bei Heyne Hardcore verlegt. Die Quote der gelungenen Vignetten des Mosaiks um den Berg stimmt dennoch. Letztlich hat Kaspar Colling Nielsen der europäischen Fantastik und generell der Kurzgeschichtenkunst mit seinem Mount Kopenhagen also ein schönes Monument errichtet. Wer finstere Weird- und fiese Short-Fiction zu schätzen weiß, sollte dem Ruf des Berges daher folgen.

Kaspar Colling Nielsen: Mount Copenhagen • Heyne, München 2021 • 210 Seiten • E-Book: € 15,99 (im Shop)

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