Peter Neumann: „Feuerland“
Eine fesselnde Zeitreise in die schillernde Welt der Utopien
Noch zu seinen Lebzeiten wurde Altkanzler Helmut Schmidt gerne mit dem Satz zitiert, dass Menschen, die Visionen hätten, doch bitte zum Arzt gehen mögen. In der Welt der Politik, so die gängige Lesart zugunsten des von vielen als Überrealisten so geschätzten Schmidt, hätten Träumereien und große Entwürfe keinen Platz. Gerade dann nicht, wenn die Welt mal wieder nicht so will, wie man sie gerne hätte, und ein wie auch immer definierter Pragmatismus eher gefragt sei als ein idealistischer Entwurf für das Morgen.
Doch heute wird immer wieder ausgerechnet dieser Mangel an Visionismus vermisst, den man, positiv formuliert, mit dem Geist von Utopien verbindet. Also gerade das, was nicht nur in Zeiten der Dauerschleifenkrisen von Klimawandel über Krieg bis zu Pandemien helfen kann, Hoffnung für die Zukunft zu schöpfen und sich auszumalen, wie das Leben vielleicht eben sein könnte, selbst wenn die Dystopie als düsterer Bruder der Utopie gedanklich selten weit wegbleibt.
Welch inspirierender Zündstoff in utopischem Denken als Lebensmotor steckt und wie reichhaltig Utopien Kunst, Kultur und eben auch Politik beflügelt haben, ist die vielleicht wichtigste Erkenntnis nach der Lektüre von Peter Neumanns jüngstem Werk „Feuerland“ (im Shop). Der promovierte Philosoph, der bereits mit „Jena 1800. Die Republik der freien Geister“ einen veritablen Erfolg feierte, entfaltet in „Feuerland“ ein faszinierendes Panorama verschiedenster utopischer Anlässe und Stationen, die er zeitlich zwischen 1883 und 2020 verortet.
Den Ausgangspunkt für diese intellektuelle Reise bildet der Ausbruch des Vulkans Krakatau, eben im Jahre 1883, als eines, wenn nicht gar das erste weltumspannende Medienereignis, das für Neumann zum Sinnbild für eine neue Epoche utopischen Denkens auf so vielen Wegen avanciert. Den Schlusspunkt markiert dagegen der Ausbruch der Corona-Pandemie in Wuhan, wobei nicht nur hier die dunkle Seite utopischer Welterklärung zumindest aufscheint.
Doch es ist gerade all das, was zwischen diesen Eckpunkten liegt, was Neumanns Buch zu einem so ansprechenden wie gewinnbringenden Lesevergnügen macht. In kleinen Episoden, die wie aus einem größeren Kontext entführt wirken, begleiten wir Ikonen wie Franz Kafka, Susan Sontag, Richard Wagner, Käthe Kollwitz, Max Weber, Hannah Arendt oder Georg Trakl auf für sie entscheidenden Momenten innerhalb ihrer Vita und damit ihres Wirkens. Stets steht dabei die Frage im Zentrum, wie die jeweilige Figur als Symptom ihrer Zeit zu verstehen ist und welche Sehnsucht oder gar Leiden mit ihrer Art Utopismus einherging.
Neumann erlaubt sich dabei den überraschend eingängigen Kniff, immer zwei Charaktere spiegelbildlich in ein Kapitel zu positionieren und es dank guter Recherche sowie viel Feingefühl für historische Zusammenhänge uns LeserInnen leicht zu machen, bei aller Sprunghaftigkeit des Buches in die Welt der ProtaginistInnen eintauchen zu können. Ob es nun um Nietzsches philosophischen Größenwahn, Sontags Enttäuschung nach einem Gespräch mit dem großen Thomas Mann, Gerhart Hauptmanns Adelung durch Theodor Fontane, Goethes sterbliche Überreste oder Ost-West-Differenzen zwischen Christa Wolf und Jürgen Habermas geht – Neumann schafft es wunderbar, selbst nicht studierten LeserInnen die jeweilige Situation sowohl intellektuell wie emotional schmackhaft zu kredenzen und so aus „Feuerland“ ein erstaunlich kurzweiliges Buch werden zu lassen, dessen einzelne Kapitel man auch für sich stehend mehrfach hervorziehen kann.
Dass die Auswahl der Charaktere natürlich diskutabel ist und vielleicht nicht an jeder Stelle der exakte Bezug zum Leitthema deutlich wird, ist dabei sehr leicht zu verschmerzen. Es sind schließlich Bücher wie „Feuerland“, die beweisen, dass kluger, anschaulicher Intellektualismus eine Lebendigkeit in sich trägt, die bildet, fesselt und einfach fasziniert. Vielleicht ja auch mit Blick auf das, was uns an Utopien (hoffentlich) noch bevorsteht.
Peter Neumann: Feuerland • Sachbuch • Siedler, München 2022 • 304 Seiten • Erhältlich als Hardcover und eBook • Preis des Hardcovers: € 24,00 • im Shop
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