12. März 2020

Postapokalyptische Spannung in der Nordsee

Kein Genre-Standard: Ben Smith’ Romandebüt „Dahinter das offene Meer“

Lesezeit: 3 min.

Die Nordsee in der postapokalyptischen Zukunft. Was genau mit der Welt passierte, kommt in Ben Smith’ Roman „Dahinter das offene Meer“ nie ans Licht. Ein alter Mann und ein Junge leben auf einer Plattform in einem riesigen Windpark in der Nordsee. Die automatisierten Systeme zur Überwachung der vielen tausend Windräder im Wasser sind schon lange nicht mehr, was sie einmal waren. Die Instandhaltung der riesigen Energielieferanten erweist sich daher als ebenso schwierig und anstrengend wie die drückende Isolation und die merkwürdige Atmosphäre zwischen den beiden einzigen Bewohnern der Plattform. Der Junge arbeitet hier zudem nur, weil er den Vertrag seines verschwundenen Vaters mit der ominös-mächtigen Firma erfüllen muss, die den Offshore-Windpark und wohl noch vieles mehr am Laufen hält.

Monotonie und Dürftigkeit beherrschen den Alltag auf der Plattform. Das ungesunde Verhältnis zwischen dem Alten und dem Jungen wird beständig schlechter und angespannter. Nur wenig unterbricht ihre entbehrungsreiche Einsamkeit und ihren täglichen Kampf gegen ihre Abgeschiedenheit und ihre ganz persönlichen Windmühlen – gegen die von der Erosion zernagten Windräder, die sie in vielen Fällen mit wenig Werkzeugen und mangels Ersatzteilen nicht reparieren können. Tückische Abwechslung bringen lediglich der Besuch des Versorgungsschiffs samt seines zwielichtigen Kapitäns, der einmal alle paar Monate die Plattform ansteuert und trotz schwindender Konservenvorräte schon mal überfällig sein kann, oder gewaltige Stürme, welche die schiefe Plattform erschüttern. Ein noch viel größerer Sturm braut ich jedoch im jungen Protagonisten des Romans zusammen, als ihm klar wird, dass der alte Mann ihm nicht die Wahrheit über seinen Vater erzählt hat. Plötzlich explodiert das Misstrauen, belauern die beiden sich regelrecht zwischen ihren Bootsfahrten durch die Windfarm …


Ben Smith. Foto © Max Smith

Ben Smith unterrichtet kreatives Schreiben an der Plymouth University in Cornwall, außerdem ist er ein Experte für Literatur über das Meer, Umweltverschmutzung und das Anthropozän. Nach der Veröffentlichung von Gedichten und Kritiken handelt es sich bei „Dahinter das offene Meer“ um seinen ersten publizierten Roman. Im englischen Original heißt das Buch „Doggerland“, also wie das trockene Gebiet, das in der Steinzeit vor der Eisschmelze einst Kontinentaleuropa, Skandinavien und England miteinander verband und wo heute die Nordsee liegt. Trotz der Weite des Windparks im Doggerland und der scheinbaren Endlosigkeit des Meeres darum gelingt es dem 1985 geborenen Smith, ein Gefühl für äußere und noch mehr innere Grenzen zu vermitteln. Smith’ Beschreibungswut von Tätigkeiten auf der Plattform oder in den Windrädern, die mit sprachlicher Sachlichkeit und Präzision einhergeht, kennt dafür keine Grenzen. Er will damit der Monotonie und der dennoch überlebenswichtigen Achtsamkeit im Windpark Rechnung tragen und vermutlich einen gewissen Cormac-McCarthy-Vibe erzeugen – so ganz gelingt ihm das allerdings nicht (was nie an der Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence liegt). Die kurzen Einschübe zur Historie des Doggerland muten obendrein ein wenig seltsam an und schaden der ansonsten dichten Atmosphäre des postapokalyptischen Kammerspiels eher. Dazu kommt, dass einen die Geschichte über die postapokalyptische Nordsee anfangs nicht gerade im Sturm erobert. „Dahinter das offene Meer“ braucht etwas, bis die Räder in Schwung kommen.

Schließlich sind Stimmung und Spannung aber groß genug, sodass man über die nicht ganz so gelungenen Strömungen des Romans hinwegsehen kann. Wer seine Postapokalypse rau und unbequem mag und sie möglichst weit vom etablierten Genre-Standard entfernt genießen will, kann daher ruhig mal versuchsweise in Ben Smith’ Windpark schippern.

Ben Smith: Dahinter das offene Meer Liebeskind, München 2020 • 254 Seiten • Hardcover: 20,00 Euro

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