9. Oktober 2018 1 Likes

Traumsüchtig

Karl Olsbergs „Girl in a Strange Land“ zeigt die Verlockungen der VR-Scheinwelten

Lesezeit: 4 min.

Auf der Frankfurter Buchmesse entscheidet sich diese Woche, ob Karl Olsberg für „Boy in a White Room“ den Deutschen Jugendliteraturpreis verliehen bekommt. Verdient hätte es seine philosophische Betrachtung über künstliche Intelligenz und virtuelle Realität allemal. Wer auf die Entscheidung der Jury wartet, kann sich die Zwischenzeit mit dem Nachfolgeband vertreiben. Pünktlich zur großen Bücherschau liegt „Girl in a Strange Land“ in den Läden. Der Roman funktioniert auch als eigenständige Geschichte, die vorherige Lektüre von „Boy in a White Room“ wird aber dennoch ausdrücklich empfohlen. Eine Besprechung von „Girl in a Strange Land“ kommt jedenfalls nicht ohne Spoiler zu „Boy in a White Room“ aus. Alles klar? Dann los! Es geht in die Zukunft, genauer gesagt in das Jahr 2057.

Im beschaulichen Stillachtal lebt die 15-jährige Sophia Mahler in einer christlichen Gemeinde, die isoliert vom Rest der Welt liegt. Im Tal, so die Ansicht der Kirchenoberen, sind die „Erweckten“ sicher vor dem Grauen, das außerhalb lauert. Dort wird die „Letzte Schlacht“ geschlagen, und die Menschen erwartet Tod und Teufel. Wer dort leben muss, wird als „Verlorener“ angesehen. Kein Wunder, dass eine Verbannung aus dem Tal einem Todesurteil gleich kommt. Sophias Freund Mirko hinterfragt jedoch diese Ansicht und flieht. Nachdem Sophia via Drohne eine Botschaft von ihm erhalten hatte, kamen auch ihr Zweifel. Schließlich wagt sie ihrerseits die Flucht und stellt fest, dass die Welt da draußen ganz anders ist als sie es sich vorgestellt hat.

Das erste Drittel des Romans hat bis dahin rein gar nichts mit der Zukunft zu tun, wie wir sie uns vorstellen. Die „Erweckten“ leben in der scheinbaren Postapokalypse spartanisch, ohne moderne Gerätschaften und nach dem Lebenszyklus, den Natur und Bibel vorgeben. In diesen knapp einhundert Seiten nimmt sich Olsberg Zeit, Sophia eingehend zu charakterisieren und ihre innere Zerrissenheit glaubhaft darzustellen. Auf der einen Seite möchte sie an einen gütigen Gott glauben und liebt die Gemeinschaft, auf der anderen Seite erscheint ihr die Kritik an der Schöpfungslehre berechtigt, zumindest die, die in den verbotenen Büchern erhoben wird, die Mirko zurückgelassen hatte. Durch die Lektüre dieser Bücher erlaubt Olsberg seiner jungen Heldin ihr ganz persönliches Erweckungserlebnis. Umso geschockter reagiert sie auf die Welt und ihre Bewohner, die sie außerhalb des Tals antrifft.

In den Worten der Priester scheint doch ein Fünkchen Wahrheit zu stecken. Die Menschen des Jahres 2057 sind zwar nicht in einer apokalyptischen „Letzten Schlacht“ gefangen, aber dennoch „Verlorene“. Sie haben erst gar keine Schlacht geschlagen, sondern sich freiwillig in die Abhängigkeit der sieben allmächtigen künstlichen Intelligenzen der Zukunft begeben, die sie ehrfürchtig „Titanen“ nennen. Jene Titanen spielten auch schon in „Boy in a White Room“ eine Rolle. Am Ende des Buchs stellte sich heraus, das Manuel kein Junge, sondern eine KI ist, die zwischen Menschen und Titanen vermitteln soll. An dieser Stelle hatte Olsberg noch offen gelassen, ob es sich um die Realität oder einen weiteren VR-Test für Manuel handelt. In „Girl in a Strange Land“ baut Olsberg seine Vorstellung von einer KI-dominierten Zukunft aus. Hier haben die „Titanen“ fast vollständig die Kontrolle über die Menschheit erlangt ohne dass es diese wirklich stört. Wer will schon rebellieren, wenn sich eine gute KI wie Asklepios um das Wohl der Menschen kümmert?

Sophias Gegner ist jedoch nicht Asklepios, sondern Hypnos, der Herr über die traumhaften VR-Scheinwelten, in die sich immer mehr Menschen flüchten. Dort hatte es auch Mirko hin verschlagen, als er vergeblich auf seine Freundin wartete. Gemeinsam mit ihren neuen Mitstreitern Ricky, Paula und Karl versucht sie das Unmögliche: Mirko aus Hypnos‘ Fängen zu befreien, bevor der Junge in der VR-Kapsel stirbt. Mit von der Partie: ein gewisser René Descartes, der sein eigenes Spiel zu spielen scheint.

In „Girl in a Strange Land“ nimmt Karl Olsberg seine Leser abermals mit auf eine Reise in künstliche Welten. Während in unserer Gegenwart VR-Pioniere davon träumen, dass eines Tages jede Wohnung ein eigene VR-Zimmer hat, zeigt Olsberg die Schattenseiten der Technik auf. Dabei bleibt es nicht. Es sind auch die kleinen Dinge, die kurzen Beschreibungen des Jahres 2057, die die Zukunft farblos, kalt, steril, leer und dennoch real erscheinen lassen. Und natürlich kommt auch hier die Philosophie nicht zu kurz. Abermals zeigt Olsberg auf, wie wir Menschen mit der neuen Technik nicht umgehen sollten und wie leicht wir durch diese zu manipulieren sind. Alles in allem ist „Girl in a Strange Land“ eine gelungene Fortsetzung von „Boy in a White Room“, die durch Sophias religiöse Prägung eine neue Perspektive aufzeigt. Allerdings sind die Plot-Twists und Überraschungsmomente nicht mehr so neu wie sie es noch bei Manuels Suche nach der Wahrheit waren. Ob dies das Ende seiner Geschichte ist? Hoffentlich nicht!

Karl Olsberg: Girl in a Strange Land • Loewe, Bindlach 2018 • 336 Seiten • 14,95 € • Empfohlen ab 14 Jahren

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