22. Februar 2019 1 Likes

Utopien auf Papier

Philip Wilkinsons „Atlas der nie gebauten Bauwerke“

Lesezeit: 4 min.

Wovon lebt Science-Fiction? Figuren, Plot, Setting. Für letzteres ist der Weltenbau ein entscheidendes Kriterium. Egal ob Buch, Film oder Videospiel, ohne die fantastischen Bauwerke aus China Miévilles Bas-Lag-Trilogie, Luc Bessons „Das fünfte Element“ oder Daedalic Entertainments „Deponia“-Reihe wären diese Geschichten nur halb so spektakulär. Für zukunftsweisende Architektur braucht es aber keinen Blick in die Science-Fiction-Welt. Für sein neues Buch „Atlas der nie gebauten Bauwerke“ begibt sich Philip Wilkinson auf die Suche nach architektonischen Visionen, die nie Realität werden sollten.

Philip Wilkinson schreibt seit über 25 Jahren über historische Themen, Kunst und Religion. Dem studierten Philologen hat es die Architektur besonders angetan. Zu seinen preisgekrönten Büchern gehört auch „Amazing Buildings“, ein Sachbuch für Kinder. Auch sein Blog „English Buildings“ gewann schon Auszeichnungen und lädt zu einem virtuellen Rundgang durch das Land ein.

Sein „Atlas der nie gebauten Bauwerke“ ist eine Reise durch die Zeit. Wilkinson versammelt hier skurrile, beängstigende und futuristische Entwürfe aus den vergangenen 1200 Jahren. Einer davon brachte es immerhin bis zur Gründung: der Watkin‘s Tower, der sich am Eiffelturm orientierte und diesen überragen sollte. Der instabile Boden setzte der Eisenkonstruktion jedoch ein vorzeitiges Ende. Später erbauten Sir Robert McAlpine, John William Simpson, Maxwell Ayrton und Owen Williams an gleicher Stelle das legendäre Wembley-Stadion.

Was Sir Edward Watkins und seine Kollegen gemeinsam haben ist ihre Vorstellungskraft. Die im „Atlas“ vereinten Werke von Architekten und Künstlern sind Utopien auf Papier. Sie versuchten etwas Neues zu erschaffen und wegweisend für den Städtebau zu sein. Dazu zählte auch Antonio di Pietro Averlino (genannt „Filarete“) und sein Ideal einer vollkommenen Stadt: „Sforzinda“ von 1450. Knapp sechzig Jahre vor Thomas Morus‘ „Utopia“ entwarf Filarete eine fiktive Geschichte zu seiner Stadt, in deren „Haus der Tugend und des Lasters“ sowohl ein Bordell als auch eine Akademie Platz fanden.


Der nicht begehbare Elefant: © Alavoine, Jean Antoine (1776-1834)/Musee de la Ville de Paris Musee Carnavalet, Paris, France/Bridgeman Images

Zu den etwas skurrileren Arbeiten gehört Charles François Ribart de Chamousts „Triumphaler Elefant“ aus dem Jahr 1758. Laut Wilkins waren Elefanten nicht nur faszinierend für die Europäer, die die Tiere aus Erzählungen und vom Jahrmarkt kannten. Elefanten galten auch als Symbol der Macht. Was liegt also näher, als einen begehbaren „Triumphalen Elefanten“ zu Ehren von König Ludwig XV. zu errichten? Das Tier auf dem Cover wurde natürlich nie gebaut. Stattdessen setzte man lieber auf einen Triumphbogen, der heute als eines der Wahrzeichen von Paris gilt. Eine kleinere, nicht begehbare Variante des Elefanten war ebenfalls im Gespräch, kam aber auch über den Entwurf nicht hinaus.

Weitaus bedrückender und auf seine eigene Art richtungsweisender war Antonio Sant‘Elias „La città nuova“, die zum vierten Kapitel gehört. Unter der Überschrift „Baut es neu!“ versammelt Wilkinson faszinierende wie auch bedrückende Entwürfe aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wer die Seite aufschlägt erlebt gleich ein Déjà-vu: Sant‘Elias Zeichnung von 1914 scheint einer Szene aus Fritz Langs „Metropolis“ entsprungen. „La città nuova“ ist ein Beispiel dafür, wie inspirierend die von Wilkinson zusammengetragenen Bauwerke waren und immer noch sind. Zu ihnen zählt auch Mies van der Rohes Hochhaus am Bahnhof Friedrichsstraße. Was heute selbstverständlich ist, war 1922 revolutionär: ein Hochhaus, dessen Außenfassade mit Glas verkleidet ist. Zudem machte sich der bekannte Architekt auch Gedanken darüber, wie ein Hochhaus gebaut werden muss, um so viel Tageslicht wie möglich in das Gebäude zu lassen. Darüber dürften heute noch einige seiner Kollegen grübeln.


Zukunftstraum der „Asian Cairns“: © VINCENT CALLEBAUT ARCHITECTURES

Im letzten Kapitel mit dem schönen Namen „Ausblick“ zeigt Wilkinson seinen Lesern Konzepte aus den vergangenen sechzig Jahren. Darunter sind dann auch so bekannte Architektinnen wie Zaha Hadid mit „The Peak“ (1982-83). Die Bauwerke der 2016 verstorbenen Grande Dame schienen stets der Zukunft entsprungen zu sein. Dies trifft auch auf die Werke ihrer Kollegen zu, die so oder so ähnlich in jedem guten Science-Fiction-Werk auftauchen könnten. Unsere Vorstellung von einer freundlichen Zukunft fasst am besten Vincent Callebauts „Asian Cairns“ zusammen. Der Belgier hat sich auf grüne Architektur spezialisiert, sucht also nach einer Möglichkeit, ökologisch zu bauen und sieht die Natur als Vorbild. Für die chinesische Megametropole Shenzhen entwarf er 2013 eine Hochhausgruppe der etwas anderen Art. Sie besteht aus klassischem Hochhauselementen und gläsernen Blasen, die mit Solarenergie betrieben werden. Hier gibt es nicht nur Platz für grüne Erholungsflächen, sondern auch für den großangelegten Gemüse- und Obstanbau im Gebäude selbst. Eine wahrhaft fantastische Vision!

Im Original heißt Philip Wilkinsons „Atlas der nie gebauten Bauwerke“ übrigens „Phantom Architecture“. Und genau das sind die hier versammelten fünfzig Gebäude: Phantome. Allerdings die Sorte Phantom, die damals wie heute inspiriert und fasziniert. Wilkinson zeigt, welche Ideen die Großen der damaligen Zeit antrieb und wie ihre Entwürfe die nachfolgenden Generationen geprägt haben. Sein „Atlas“ ist eine informative, reich bebilderte, fantastisch zu lesende Reise durch die Jahrhunderte, die einem noch lange im Gedächtnis bleibt. Eines ist klar: für den Blick in die Zukunft braucht es manchmal die Rückschau in die Vergangenheit. Philip Wilkinsons „Atlas der nie gebauten Bauwerke“ gehört in jedes gut sortierte Bücherregal und ist eine Bereicherung für jeden Science-Fiction-Liebhaber.

Philip Wilkinson: Atlas der nie gebauten Bauwerke. Eine Geschichte großer Visionen • Aus dem Englischen von Lutz W. Wolff • dtv, München 2018 • 256 Seiten • 30,00 €

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