„Wahnsinnig Intelligent“ – Anders Denken
Ein reißerischer Titel verbirgt ein kluges Buch
Vermutlich war der Titel zu verführerisch. Ein wenig wundert man sich nach der Lektüre von André Frank Zimpels informativen Buch aber doch, dass der Autor dem Titel „Wahnsinnig Intelligent“ (im Shop) zugestimmt hat. Denn eigentlich geht es auf den gut 300 Seiten gerade darum, dass Menschen, die früher noch als anders galten, die von der Norm abwichen, die als seltsam oder gar behindert galten, eben nicht wahnsinnig sind, sondern auch normal – nur eben auf eine andere Weise normal als die Mehrheitsgesellschaft und die von ihr definierten Normen.
Wer früher als autistisch diagnostiziert wurde hatte Glück, zumindest in einer Sonderschule unterrichtet zu werden, wurde allerdings meist eher ausgehalten, geduldet und schon gar nicht gefördert. Aber was heißt überhaupt früher? So lange gibt es die Diagnose autistisch noch gar nicht, geschweige denn Diagnosen wie ADHS, Dyskalkulie oder Legasthenie. Was inzwischen den etwas speziellen Bereich der retrospektiven Diagnose hervorgebracht hat, der bei längst Verstorbenen anhand von biographischen Überlieferungen oder Berichten von Zeitzeugen diese oder jene Diagnose stellt. So sollen etwa Albert Einstein, Benoît Mandelbrot, Andy Warhol, Ludwig Wittgenstein, Winston Churchill oder auch Pablo Picasso ADHS oder Autismus gehabt haben, weswegen sie meist die Schule oder andere Formen von normiertem Lernen hassten, später aber auf unterschiedlichsten Feldern durchaus erfolgreich agierten. Was jetzt im Umkehrschluss natürlich nicht heißt, dass jeder schlechte Schüler ein verstecktes Genie ist, der nur von seinen Lehrern nicht vernünftig gefördert wird, auch wenn das Helikoptereltern vom Prenzlauer Berg bis Brooklyn sicher des öfteren denken.
Andererseits ist es, wie Zimpel überzeugend darlegt, offenbar auch kein Zufall, dass so viele offensichtlich Hochbegabte eine besondere Form der Wahrnehmung besitzen, dass sie sich in scheinbar normalen sozialen Situationen oft schwer tun, dass sie als unnahbar und schwierig gelten. Defizite in einem Bereich der geistigen Entwicklung wirken sich positiv auf andere Bereiche aus. Lernschwierigkeiten etwa, die autistische Kinder langsamer machen, können dazu führen, dass besonders viel Zeit auf bestimmte Entwicklungsstufen verwendet wird, was wiederum zu einem tieferen Verständnis führen kann.
Und was hat das mit der Zukunftstechnologie Künstliche Intelligenz zu tun? Einfach zu beantworten ist diese Frage nicht, denn allein über die Frage, was genau denn eigentlich Intelligenz ist, streiten sich Forscher und in die Zukunft blickende, die Möglichkeiten oder Gefahren der KI entweder Über- oder Unterschätzen, je nachdem wen man fragt.
Unbestritten ist aber, dass gerade im Silicon Valley bei Einstellungsgesprächen zunehmend auch auf Aspekte im Denken der Kandidaten geachtet wird, die noch vor wenigen Jahren eher zur Absage geführt haben. Dass Nerds dem Klischee nach ja ohnehin nicht zu den sozial kompetentesten Menschen zählen, scheint da ins Bild zu passen. Extreme Fähigkeiten, sich komplexe Programme nicht einfach als Zahlenreihen vorzustellen, sondern in Bildern, in Farben, könnte sich zukünftig als besonders nützlich erweisen und das macht neurodivergente Menschen besonders interessant für die Wissenschaft.
Bildliche Formen der Intelligenz sind etwa ein charakteristisches Merkmal für viele Menschen in den Spektren von Autismus, aber auch von Trisomie 21. Deren potentielle Fähigkeiten zu erkennen und dann auch zu fördern, könnte eine Investition in die Zukunft sein. Bestimmte Lernschwierigkeiten, die die Eingliederung in die „normale“ Gesellschaft oft schwierig bis unmöglich macht, sollten nicht dem Potential von Andersdenkenden im Wege stehen, die gerade weil sie die Welt anders sehen, den Weg zu neuen Denkformen und Entwicklungen weisen könnten.
Neuen Studien zufolge gelten 2-3% der Beschäftigten in den sogenannten MINT-Berufen, also den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik als autistisch, doch gerade in komplexen Bereichen wie Blockchain, Cybersicherheit, oder Datenvisualisierung könnte dieses „Anders denken“ besonders nützlich sein.
Unweigerlich kommt man hier zur alten Dualität von Genie und Wahnsinn. Lange Zeit wurde fast alles Abnorme, Absonderliche verdammt, verachtet, ausgegrenzt, was sich nur langsam ändert, auch durch die Überlegungen des legendären Philosophen Michel Foucault, dessen berühmtestes Werk nicht umsonst „Wahnsinn und Gesellschaft“ heißt.
Ob sich Neurodiversität tatsächlich als größte, viel zu wenig genutzte Ressource unseres Planeten herausstellen wird, wie Zimpel am Ende prognostiziert, bleibt abzuwarten, sehr gute Argumente für ein genaueres Überlegen über die Frage wer oder was denn nun „normal“ oder „anders“ liefert er mit seinem lesenswerten Buch in jedem Fall.
André Frank Zimpel: Wahnsinnig intelligent • Sachbuch • Goldmann, München 2025 • 368 Seiten • Erhältlich als Hardcover und eBook • Preis des Hardcovers: 24,00 € • im Shop
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