Wenn Mary Shelley auf ihr Monster trifft
Ein übersehenes Meisterwerk: „Der entfesselte Frankenstein“ von Brian W. Aldiss
Ein US-Amerikaner aus dem Jahr 2020 sieht sich durch einen „Zeitrutsch“ in die Schweiz des frühen 19. Jahrhunderts versetzt und lernt am Genfer See nicht nur die Autorin des legendären Klassikers Frankenstein kennen, sondern begegnet auch dem gleichnamigen Wissenschaftler und seiner Kreatur. Irgendetwas scheint gewaltig durcheinander geraten zu sein. – Dies ist die Ausgangssituation des Romans „Der entfesselte Frankenstein“ (im Shop), der zu den besten Werken von Brian W. Aldiss gehört und nun als E-Book neu entdeckt werden kann.
„Die Wirklichkeit fällt auseinander“ – diese Bemerkung macht der ehemalige Präsidentenberater Joseph Bodenland gegenüber seiner Frau, kurz bevor ihn ein „Zeitrutsch“ erfasst, eine durch Atomexplosionen verursachte Störung des Raum-Zeit-Kontinuums. Er wird in die Schweiz des Jahres 1816 geschleudert, wo er sich als Flüchtling der napoleonischen Kriege ausgibt und dank deutscher wie französischer Sprachkenntnisse gut zurechtkommt. Doch Bodenland befindet sich nicht nur in der Vergangenheit, sondern in einer alternativen Zeitlinie, in der neben Mary Godwin (1797–1851), der Autorin des berühmten Romans Frankenstein-Romans, auch deren Schöpfung existiert: Nämlich der junge, hochbegabte Wissenschaftler Victor Frankenstein und sein „Monster“, das er aus Leichenteilen zusammengesetzt und mittels Stromstößen zum Leben erweckt hat. Der Amerikaner weiß um die Entstehungsgeschichte des Buchs und sucht jene Villa auf, in der sich Mary und deren späterer Ehemann, der Autor Percy B. Shelley, sowie der Schriftsteller Lord Byron und sein Leibarzt John Polidori wegen des schlechten Wetters Schauergeschichten erzählen. Aber das, was Mary niederschreiben wird, beruht hier auf wirklichen Ereignissen – und hat reale Folgen: Für einen Mord, den das Ungeheuer begangen hat, wird die unschuldige Justine Moritz hingerichtet. Bodenland begreift, dass es nun auf sein Tun ankommt, und versucht verzweifelt, sich an die lang zurückliegende Lektüre des Romans zu erinnern. Das einzig greifbare Resultat besteht allerdings darin, dass er als angeblicher Mörder des plötzlich verschwundenen Victor Frankenstein verhaftet wird. Durch einen erneuten Zeitrutsch kommt er zwar frei, doch unterdessen existiert eine Gefährtin für das Monster, und sie trägt das Gesicht von Justine Moritz. – Die dann anhebende Jagd wird Bodenland bis in eine weit entfernte Zukunft und zum vielleicht letzten Außenposten der Menschheit führen.
Aldiss‘ 1973 als Frankenstein Unbound veröffentlichter Roman kann man getrost in eine Reihe mit seinen Klassikern wie Hothouse (1962; dt. Der lange Nachmittag der Erde, im Shop), Greybeard (1964; dt. Graubart, im Shop) und der Helliconia-Trilogie (1982–85; im Shop) stellen. Es handelt sich um eine Hommage an Shelleys Meisterwerk, das für Aldiss eine besondere Rolle spielt, da er in ihm den Gründungstext der Science Fiction sieht. In seiner Literaturgeschichte The Billion Year Spree (1973/1986; dt. Der Milliarden-Jahre-Traum) führt Aldiss aus, dass die Gattung einerseits von der Wissenschaft und andererseits von romantischen Erzählweisen – speziell der Gothic Novel – bestimmt werde. Das Thema von Frankenstein sei dabei das Thema der Neuzeit überhaupt, nämlich der Konflikt zwischen einer zwar erfolgreichen, aber auch seelenlosen Ratio und der emotionalen Natur des Menschen. Aldiss arbeitet sorgfältig die Parallelen zur Gegenwart heraus: Victor Frankenstein erscheint als Archetyp des anmaßenden Wissenschaftlers, der den Menschen „verbessern“ und den Tod überwinden will; daran geknüpft werden zahlreiche Reflexionen über die Rolle der Technik, die Verantwortung gegenüber der Welt und den Nutzen von Religion und Dichtung. Doch Frankenstein täuscht sich – er sieht nur eine Seite des Menschen und übersieht die emotionale, soziale und künstlerische Perspektive. Letztlich erscheint das frühe 19. Jahrhundert als letzte Gelegenheit, „Kopf und Herz“ zu versöhnen, bevor die Forschung kommerzialisiert wurde, in den Dienst der Politik geriet und sich als „Tod für den Geist“ herausstellte. Aldiss bindet hierzu gleichermaßen handlungsintensive Passagen wie ideensprühende Debatten ein, denn Der entfesselte Frankenstein ist nicht nur ein Roman über handfeste Konflikte in einer anderen Zeitlinie, sondern auch ein intellektuelles Abenteuer über den Komplex „Mensch und Maschine“ – und als solches weiterhin aktuell.
Übrigens zeichnet noch ein Punkt das in Deutschland weitgehend übersehene Buch aus: Es ist eine Fiktion über eine andere Fiktion. Dies hat Aldiss bereits 1965 mit seiner berühmten und mit dem Nebula ausgezeichneten Erzählung The Saliva Tree (1965; dt. Der Speichelbaum) unternommen, die Elemente von H. G. Wells und H.P. Lovecraft aufgreift und miteinander verschmilzt; er wird auf diese Methode sowohl in Moreau‘s Other Island (1980; dt. Dr. Moreaus neue Insel, im Shop) als auch in dem Roman Dracula Unbound (1990) zurückkommen, der natürlich auf den Klassiker von Bram Stoker anspielt. Der Zusatz „entfesselt“ lässt sich hingegen mit Prometheus Unbound in Verbindung bringen, einem 1820 erstmals veröffentlichten „lyrischen Drama“ von Percy B. Shelley. Die ausdrückliche Beziehung zwischen Texten ist ein Merkmal des postmodernen Romans, als dessen Vertreter Aldiss hierzulande noch zu entdecken wäre.
Allerdings: Wer will, kann sich auch einfach von der spannenden Geschichte um Joseph Bodenland im 19. Jahrhundert mitreißen lassen. Wie erwähnt, erinnert der sich kaum an Mary Shelleys Klassiker – es muss sich daher niemand ausgeschlossen fühlen, dem es vielleicht genauso ergeht.
Brian W. Aldiss: Der entfesselte Frankenstein • Roman • Aus dem Englischen von Irene Holicki • Heyne, München 2020 • 201 S. • E-Book • € 8,99 • im Shop
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