„Wilde Saat“ von Octavia Butler
Ein aktueller Themen-Cocktail als Meisterwerk der Science-Fiction
Die amerikanische Science-Fiction-Schriftstellerin Octavia E. Butler (1947–2006) (im Shop) kann und muss in einem Atemzug mit Ursula K. Le Guin und James Tiptree Jr. genannt werden. Auch Butler bereicherte die fantastische Zukunftsliteratur um eine ganz besondere und wichtige Perspektive, die nicht der damaligen Genre-Prägung entsprach. Zwischen 1976 und 1984 veröffentlichte Butler z. B. ihre „Patternist“-Serie, eine Secret History bzw. Alternative History, die aus den Romanen „Als der Seelenmeister starb“, „Alanna“, „Wilde Saat“ und „Clay’s Ark“ besteht. Obwohl „Wilde Saat“ (im Shop) in Reihenfolge der Veröffentlichung das vierte Kapitel der Serie war, liefert das Buch chronologisch gesehen den Auftakt der Saga und kann auch als Einzelband gelesen werden.
Alles beginnt mit dem mächtigen Unsterblichen Doro, der seit tausenden von Jahren über die Welt wandelt und die Körper anderer Menschen übernimmt, wie es ihm passt. Außerdem betreibt Doro zwischen Afrika und den Kolonien in Amerika ein Zuchtprojekt mit Menschen sowie seinen eigenen Nachkommen. Als er der Spur mehrerer Sklavenhändler folgt, die eines seiner Dörfer in Afrika überfallen haben, begegnet er Anyanwu, einer fähigen Heilerin und Gestaltwandlerin, die keine fremden Existenzen rauben muss, um ihre Langlebigkeit zu speisen. Doro ist vom ersten Moment an wie besessen von Anyanwu: Er begehrt sie und möchte sie unbedingt seiner Blutlinie hinzufügen. Zunächst sieht es so aus, als würde er seinen Willen bekommen, denn Anyanwu begleitet ihn in die Neue Welt auf dem nordamerikanischen Kontinent. Doch Anyanwu wird sich Doros Druck und seinen Plänen nicht so leicht beugen, wie Doro denkt, und so entfaltet sich im 16., 17. und 18. Jahrhundert ein rund 300 Jahre währender Machtkampf zwischen dem unsterblichen Mann und der unsterbliche Frau …
Octavia Butler schildert diesen Kampf in einer charakterorientierten Geschichte, die auf den ersten Blick relativ geradlinig erscheint. Aber es kommt darauf an, dass man die großen Themen, die Butler in ihren Roman gepackt hat, aufschlüsselt, sich bewusst macht. Letztlich schrieb die Amerikanerin nämlich über viel mehr als nur den Konflikt zwischen Mann und Frau. Wobei Anyanwu als starke schwarze Frauenfigur, die sich gegen ein altertümliches Patriarchat auflehnt, ganz aktuell für Feminismus und Diversität steht, derweil auch Identität und Gender immer wieder eine Rolle in Butlers Geschichte spielen. Genauso wie die tierischen Aspekte der menschlichen Natur und kritische Gedanken zu den historischen Schattenseiten Eugenik, Sklavenhandel und Kolonialismus. Dass das Ringen von Doro und Anyanwu indes einen alternativen, afrikanisch geprägten Verlauf der amerikanischen Historie zur Folge hat, macht aus der Fantasy klar Science-Fiction und ein bedeutendes Werk des Afrofuturismus.
Wer heute mit Begeisterung die Werke von Nnedi Okorafor, N. J. Jemisin, Marlon James, Tade Thompson und anderen goutiert, die das Genre so sehr bereichern, sollte „Wilde Saat“ von Octavia Butler gelesen haben: Schließlich hat sie dazu beigetragen, die Saat für ein vielfältigeres, besseres und fantastischeres Genre zu legen, in dem wir uns heute alle bewegen. Umso erfreulicher, dass „Wilde Saat“ nun in einer durchgesehenen Neuausgabe vorliegt, die dank ihres golden veredelten Taschenbuch-Einbands auch noch zu den schönsten Artefakten der traditionsreichen „Meisterwerke der Science-Fiction“-Reihe gehört. Aber auch E-Book und Hörbuch-Download laden zum Entdecken dieses revolutionären, bis heute relevanten Klassikers ein.
Octavia E. Butler: Wilde Saat • Roman • Aus dem Amerikanischen von Will Platten • Wilhelm Heyne Verlag, München 2021 • 480 Seiten • als Taschenbuch und als E-Book erhältlich • Preis des E-Books: € 9,99 • im Shop
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