12. September 2015 2 Likes

Exotische Evolution

Die Fortsetzung von Frederik Peeters „Aâma“ ist grandiose Science-Fiction in Comicform

Lesezeit: 3 min.

In der Science-Fiction-Comic-Serie „Aâma“ nimmt der Schweizer Autor und Zeichner Frederik Peeters seine Leser mit in eine ferne, transhumane Zukunft. Das Ende des ersten Albums „Der Geruch von heißem Staub“ ließ den technophoben, altmodischen Loser Verloc Nim, seinen ehrgeizigen Bruder Conrad und dessen Roboter-Gorilla-Bodyguard Churchill in einer merkwürdigen Forschungskolonie auf dem erst vor Kurzem entdeckten Planeten Ona(Ji) zurück. Dort wollten die drei die unglaubliche Substanz Aâma bergen – eine erstaunliche Schwarmintelligenz winziger Nano-Roboter, die selbstständig Materie auf subatomarer Ebene verändern können.

Jetzt ist mit „Die unsichtbare Menge“ der zweite Band der auf dem Comic-Festival im französischen Angoulême ausgezeichneten SF-Serie auf Deutsch erschienen und zeigt, was Verloc und Co. auf Ona(Ji) erleben. Außerdem erfährt man mehr über Verlocs Scheitern und seine Tochter, die er und seine Frau ohne Genetik und Implantate zeugten und auf die altmodische Art ins Leben holten, was nicht ohne Folgen für die Kleine blieb, die ein lebender Anachronismus zu sein scheint.

Auch Ona(Ji) bekommt die Folgen menschlicher Entscheidungen und Eitelkeit zu spüren. Ursprünglich sollte dort erforscht werden, was das extrem lernfähige Aâma, das den genetischen Code des Lebens umschreiben kann, mit der Evolution eines noch nicht weit entwickelten Planeten macht, der sich ungefähr auf dem evolutionären Niveau des irdischen Kambriums befindet. Doch das freigesetzte, wilde Aâma ist außer Kontrolle, peitscht die Evolution in eine ungeahnte Richtung und erzeugt dabei sogar technisch-biologische Hybriden. Und die wundersamen Schöpfungen des Aâma sind nicht nur unheimlich staunenswert, sondern auch ungemein gefährlich…

Ob Verlocs weiter zurückliegende Vergangenheit oder sein Bericht über die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit auf Ona(Ji) – „Die unsichtbare Menge“ ist eine famose Fortsetzung und ferner Science-Fiction, wie sie besser nicht sein kann. Da darf man schon die Superlative auspacken, wenn Frederik Peeters einem die Dreifaltigkeit guter Science-Fiction zum Anbeten vorsetzt: Eine exotische Umwelt in der futuristischen Stadt und in der fremdartigen Wildnis, reizvolle Ideen und ungemein starke Figuren. Im Gegensatz zum Auftaktband, ist das Tempo diesmal zudem genau richtig, obwohl die Einfälle, die Faszination der Evolution auf Ona(Ji) und Verloc Nim weiterhin klar im Vordergrund stehen – „Aâma“ zielt es nicht darauf ab und hat es nach wie vor schlichtweg nicht nötig, ein SF-Action-Feuerwerk zu sein, um Spannung zu erzeugen. Die kommt durch die Umgebung und die Charaktere.

Zu all dem ist „Aâma“ auch noch selbstbewusst erzählt und angenehm klar und stilsicher gezeichnet. Und obwohl „Die unsichtbare Menge“ in Wort und Bild immer ganz und gar Peeters ist, spürt man so einige Geister der Genre-Vergangenheit. Die Meister exotischer Ökosysteme – Stephen Baxter, Alan Dean Foster, Ursula K. Le Guin, Jack Vance,  Stanislaw Lem und Moebius zum Beispiel –, aber auch vage Erinnerungen an H. G. Wells, Edgar Rice Burroughs oder Alex Raymond klingen an. Vermutlich macht jeder Leser von „Die unsichtbare Menge“ einen anderen geistigen Vorfahren aus, der die eigenen Leseerfahrungen reflektiert – und der Geschichte in keinem Fall ihre Originalität raubt. Viel mehr bereichert es sie durch die Möglichkeit der mühelosen Einbettung eines tollen eigenständigen Werkes in den größeren Genre-Kontext, was sich vollkommen organisch und richtig anfühlt.

Das zweite Kapitel von „Aâma“, das wieder als großformatige Klappenbroschur mit Handlettering bei Reprodukt vorliegt, begeistert und beeindruckt. Zum Glück hat der Berliner Verlag, der mit „Blast“, „LastMan“ und „Weltraumkrümel“ momentan einige SF-Perlen im Programm hat, die Übersetzung des dritten Bandes dieser außergewöhnlichen Saga, die im französischen Original bereits mit Teil vier abgeschlossen wurde und längst auch auf Englisch erscheint, als „Die Wüste der Spiegel“ schon für Ende des Jahres angekündigt.

Darauf wartet man einerseits gerne – und kann es andererseits fast nicht erwarten …

 

Frederik Peeters: Aâma Bd. 2: Die unsichtbare Menge • Reprodukt, Berlin 2015 • 88 Seiten • 20,00 Euro

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