6. Februar 2023

„Little Monsters“ von Jeff Lemire & Dustin Nguyen

Einer neuer Comic über Vampir-Kids in der Postapokalypse

Lesezeit: 4 min.

Nachdem Top-Autor Jeff Lemire und Ausnahme-Zeichner Dustin Nguyen ihre Science-Fiction-Saga über Menschen, Roboter und Vampire in den verkoppelten Serien „Descender“ und „Ascender“ abgeschlossen haben, machten sie in „Robin und Batman: Der Weg zum Helden“ mal wieder einen Ausflug ins DC-Comics-Universum. Nun präsentieren die 1976 geborenen Eisner-Award-Gewinner mit „Little Monsters“ einen neuen unabhängigen Genre-Comic, und der hat ganz schön Biss.

Zu Beginn des 23. Jahrhunderts sind die Städte der Menschen, die u. a. eine Zweite Pandemie gesehen haben, nur noch leere Ruinen. In einer davon haust eine Gruppe Vampir-Kids, die in unterschiedlichen Epochen der inzwischen recht fernen Vergangenheit in bluttrinkende Kinder der Nacht verwandelt wurden – und die in der drögen Postapokalypse jetzt schon länger auf die Rückkehr ihrer düsteren Schöpfer warten. Zur Bande gehören Romie, stumm, künstlerisch und nichtbinär; Yui, die am liebsten Bücher liest; Lucas, der Songs schreibt und auf seiner Gitarre spielt; die Zwillinge Ronnie und Raymond, die nichts als gefährlichen Unsinn im Kopf haben; und der impulsive Billy, der besonnene Bats und die energiegeladene Vickie. Die vampirischen Kinder ernähren sich von Nagetieren, die sie fangen, und vertreiben sich die Zeit mit ihrer Kunst oder mit Fangenspielen. Die Stadt, in der sie sich tagsüber vor der Sonne verstecken, verlassen sie nie. Aber dann verändert sich ihre stillstehende Welt ohne Vorwarnung, und plötzlich steht die Gruppe vor der Zerreißprobe …

Den vielseitigen Kanadier Jeff Lemire feierte man bereits für mustergültige Superhelden-Titel wie „X-Men“, „Old Man Logan“ und „Green Arrow“, für Graphic Novels wie „Der Unterwasser-Schweißer“ oder „Rough Neck“ und für die anspruchsvolle Panel-Serien „Essex County“ und „Royal City“. Mit seinen „Moon Knight“-Comics hatte er indes sogar erheblichen Einfluss auf die MCU-Serie um den lunaren Antihelden von Marvel – und mit seiner von Netflix stark adaptierten Comic-Eigenschöpfung „Sweet Tooth“ bei Vertigo schuf Lemire darüber hinaus einen der denkwürdigsten postapokalyptischen Stoffe der popkulturellen Gegenwart. Süße Zähne haben Lemires Vampir-Kids ebenfalls, wenngleich auf andere Weise.

Diesmal bedient sich Lemire für seine Geschichte über die Ära nach dem Untergang der menschlichen Zivilisation außerdem unübersehbar, ja, geradezu überdeutlich an mehreren Grundsäulen des Subgenres: Am eher frei verfilmten Roman-Meisterwerk „I am Legend“ von Richard Matheson, am literarischen Klassiker „Herr der Fliegen“ von William Golding und nicht zuletzt am Comic-Hit und Multimedia-Phänomen „The Walking Dead“ von Robert Kirkman (im Shop) und dessen Mitstreitenden. Es ist eine ebenso simple wie naheliegende Mischung, die jedoch aufgrund ihrer schnörkellosen Einfachheit hervorragend funktioniert. Figuren und Story von „Little Monsters“ müssen nicht innovativ sein – es genügt vollauf, dass sie in dieser Post-Corona-Konstellation, den vielfältigen 2020ern und ihrer unaufgeregten Griffigkeit absolut überzeugen.

Der amerikanisch-vietnamesische Zeichner Dustin Nguyen, der früher SF-Action mit den Wildcats und der Authority aus dem WildStorm-Kosmos bebilderte, sammelte schon vor „Ascender“ Erfahrung mit Fledermäusen und Vampiren. An allerhand Comics aus Batmans Welt wurde er vor Jahren zum Top-Künstler, später zeichnete er einen Band der Bestseller-Serie „American Vampire“, die Scott Snyder zusammen mit Stephen King (im Shop) erschaffen hat, und deren Titel selbsterklärend sein sollte. Seinen markanten Strich, der bei den Figuren und Gesichtern besonders unverkennbar wird, hat sich Nguyen über all die Jahre und Projekte bewahrt.

Allerdings beschreitet er gestalterisch immer neue Wege. Hat er in „Batman: Little Gotham“ und „Descender“ voll auf hübsche, luftige Aquarellkunst gesetzt, kommt „Little Monsters“ nun in kontrastreichen Graustufen daher, die lediglich dann einen effektiven Farbtupfer erhalten, wenn der Vollmond am Himmel steht, Blut spritzt oder die Hauswände mit kindlichem Graffiti vollgekritzelt sind. Obendrein greift Nguyen für die Visualisierung und die Textur der Postapokalypse exzessiv auf gepunktete Rasterflächen zurück, wie man sie ursprünglich aus dem japanischen Manga kennt. Ein Augenschmaus.

Toll gezeichnet, souverän geschrieben: „Little Monsters“ ist ein erstes Highlight des Comic-Jahres 2023 – und dabei eines, das man nicht unbedingt erwartet hat, da Lemires „Black Hammer“-Universum nach wie vor mit zu vielen Titeln kämpft, „Gideon Falls“ gegen Ende schwächelte und das vom Kanadier geschriebene und gezeichnete „Mazebook“ leider wohl nicht auf Deutsch erscheinen wird. Umso mehr erfreuen sich alle Fans von Lemire und Nguynen am fantastischen Auftaktband von „Little Monsters“, der dem vermeintlichen Sehnsuchtsort nach dem Kollaps der modernen Gesellschaft bei allen traditionellen Einflüssen einen super Dreh abgewinnt. Und somit eine in vielen Details zeitgemäße Vampir-Geschichte mit postapokalyptischem Biss.

Abb.: © 2022 171 Studios & Dustin Nguyen. All Rights Reserved / dt. Ausgabe © Splitter Verlag Gmbh & Co. Kg

Jeff Lemire, Dustin Nguyen: Little Monsters Bd. 1 • Splitter, Bielefeld 2023 • 152 Seiten • Hardcover: 25 Euro

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