„Soon“ von Thomas Cadène & Benjamin Adam
Eine Graphic Novel zwischen Future History und Gegenwartsproblemen
Obwohl „Soon“ von Autor Thomas Cadène sowie Co-Autor und Zeichner Benjamin Adam im französischen Original bereits 2019 erschien, ist dieser über 200 Albumseiten starke Comic-Roman in seiner deutschsprachigen Ausgabe bei Carlsen Ende 2020, Anfang 2021 erschreckend aktuell. Im Jahr 2151 herrscht auf der Erde nach dem hausgemachten Untergang der menschlichen Zivilisation keine mad-max-mäßige Postapokalypse, sondern eine recht utopische neue Ordnung mit klaren Regeln und Grenzen für die Menschheit 2.0. Die Gründe für den finsteren Niedergang und den bedachtsamen Neuanfang finden wir wenig überraschend in unserer Gegenwart und ihren nur allzu bekannten, größten Problemen. Natürlich sind Konflikte wegen Viruspandemien und der Impfstoff-Beschaffung gerade ein absoluter Trigger, aber Superstürme, der steigende Meeresspiegel, die Atommüll-Entsorgung oder die Flüchtlingskrise warten letztlich bloß darauf, nach Corona wieder die mediale und damit die allgemeine Aufmerksamkeit zu erhalten.
Die stark reduzierte Menschheit in der Zukunft des 22. Jahrhunderts von „Soon“ hat aus ihren vielen Fehlern gelernt und neue Konzepte und Beschlüsse für das Zusammenleben miteinander und mit der Natur gefunden. Die Welt erholt sich und scheint ein wieder besserer Ort geworden zu sein – deshalb sind allerdings nach wie vor nicht alle einer Meinung. Dass Simone Jones etwa zu einer teuren, umstrittenen Erkundungsmission-ohne-Wiederkehr ins All fliegen wird, bringt viele Leute auf die Palme. Simones Sohn Juri ist ebenfalls alles andere denn begeistert davon, dass seine Mutter sich demnächst für immer von ihm verabschieden und zwischen den Sternen verschwinden wird. Trotzdem stimmt er zu, mit ihr auf eine kleine Weltreise zu gehen und verschiedene Zonen und Metropolen der sauberen, schonenden neuen Ordnung zu besuchen, sodass Mutter und Sohn noch etwas Quality time miteinander verbringen können. Aber Juri zieht es unterwegs sogar noch mehr von Simone fort und hin zu den aufregenden Geheimnissen der fremdartigen Zonen, wo die allgemeinen Kontrakte und Regeln oft sehr frei interpretiert werden …
„Soon“ beginnt mit einem unnötig lahmen Prolog, in dem Thomas Cadène und Benjamin Adam direkt am Anfang ordentlich den mahnenden Zeigefinger heben. Dranbleiben. Nach diesem eher unattraktiven Auftakt kriegen Cadène und Adam nämlich die Kurve. Sowohl Juris Zukunftsabenteuer in den so unterschiedlichen Zonen, als auch die aufbereitete Historie der Moderne und die „klassische“ Future History bis 2151 funktionieren im Anschluss an den Fehlstart ausgesprochen gut. Juris Storys macht wegen der Nähe zu den Figuren, des emotional unterfütterten Plots und der aktiven Erkundung der Zukunft ein bisschen mehr Spaß und ist außerdem richtig stark und markant umgesetzt, was Zeichnungen und Kolorierung angeht; aber auch die äußerst faktenreichen Geschichtskapitel, die grafisch oft clever an Infografiken angelehnt sind und teils einen experimentellen Erzählcharakter haben, tragen zum üppigen Panorama dieser Near Future bzw. Future History, dem nicht im Einheitsbrei versinkenden Leseerlebnis und dem positiven Gesamteindruck bei.
Ungeachtet der Anlaufschwierigkeiten, der manchmal etwas zu hohen Infodichte und der wenig schmeichelhaften, jedoch realistischen und greifbaren Bestandaufnahme unserer Zeit ist „Soon“ ein gelungener Science-Fiction-Comic und allemal beachtenswerte gezeichnete Zukunftsliteratur: Eine vielseitig bis ungewöhnlich verpackte Geschichte der Zukunft unserer Art und unseres Planeten, die zugleich eine Geschichte der Gegenwart und Vergangenheit ist. Nicht nur als SF-Fan sollte man „Soon“ daher möglichst bald lesen.
Abb.: © Dargaud 2019, © der deutschen Ausgabe Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2020
Thomas Cadène & Benjamin Adam: Soon • Carlsen, Hamburg 2020 • 215 Seiten • Hardcover: 29 Euro
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