7. September 2016 2 Likes

Die Sucht nach Likes

Der pointierte Teeniefilm „Nerve“ erzählt von der Gier nach Beliebtheit in der virtuellen Welt

Lesezeit: 2 min.

In gewisser Weise passt es ja zur digitalen Welt, die unter der Oberfläche vom Binärsystem aus Einsen und Nullen besteht, dass auch Geschmacksurteile meist nur noch in Extremen funktionieren: Like/ Don’t Like; Daumen hoch/ Daumen runter; Fresh/ Rotten. Die Beliebtheit von Produkten zu bewerten mag noch einen gewissen Nutzwert haben, doch den Wert der eigenen Persönlichkeit von Likes abhängig zu machen ist nicht unproblematisch. Denn wie bekommt man mehr Follower, mehr Likes, größere Beliebtheit? Durch möglichst originelle, überraschende, oft auch halsbrecherische Fotos und Videos, die auf den bekannten Plattformen gepostet werden. Beim Versuch den jeweils aktuellen Meme-Trends auf besonders halsbrecherische Weise fortzusetzen gab es schon schwere Unfälle und gar Todesopfer. Angesichts dieser Entwicklung, die mit Spielen wie Pokemon Go sicher nicht an ihrem Ende angekommen ist, wirkt der Teeniefilm „Nerve“ trotz seines überdrehten und fiktiven Konzepts wie eine kaum übertriebene Warnung vor aktuellen Entwicklungen.

Willst du Spieler oder Zuschauer sein? Das ist beim Onlinespiel Nerve die Frage. Bislang war die 19jährige Vee (Emma Roberts) eher eine Zuschauerin, eine Mitläuferin, die sich nie so recht etwas getraut hat. Auch das Stipendium für ein College am anderen Ende des Landes wagt sie nicht anzunehmen und will lieber in ihrer Heimat in New Jersey bleiben. Ganz anders ihre beste Freundin Sydney (Emily Meade), eine wilde Draufgängerin, die sich bei Nerve langsam immer mehr Follower erkämpft. Das Prinzip des Spiels ist eine Art Wahrheit oder Pflicht, aber ohne Wahrheit. Zunehmend verrückte, riskantere Aufgaben bekommen die Spieler von der Onlinegemeinde gestellt, vom Küssen eines Unbekannten, über das Stehlen eines Kleides im Kaufhaus, bis zum Motorradfahren mit verbundenen Augen reichen die Aufgaben, und klar: Wer wagt bekommt Likes.

Während Sydney viel wagt bleibt Vee außen vor, bis sie sich provoziert fühlt und doch mitmacht. Bald lernt sie den undurchschaubaren Ian (Dave Franco) kennen, einen erfahrenen Spieler, mit dem sie von den Zuschauern auf eine immer wildere Reise durch die Nacht geschickt wird.

Dass am Ende natürlich die Erkenntnis steht, dass Likes nicht alles sind ist selbstverständlich. Doch bis dahin inszeniert das Regieduo Henry Joost & Ariel Schulman einen erstaunlich vielschichtigen Film, der einerseits als klassischer Teeniefilm funktioniert – inklusive High School, Streit und Versöhnung zwischen besten Freundin und Schwärmereien für das andere Geschlecht – aber auch ein hellsichtiger Film über Möglichkeiten und Folgen moderner Medien ist.

Schon in ihrem ersten gemeinsamen Film „Catfish“ hatten Joost & Schulman einen Aspekt der digitalisierten Welt unter die Lupe genommen: Das Online-Dating, das kennenlernen von Personen, von denen man oft nicht so genau weiß, ob alle Beschreibungen und Fotos wirklich der Wahrheit entsprechen. Auch damals ging es um Formen der Sucht und Selbsttäuschung, ein Thema, dass sie nun auf stilistisch überzeugende Weise fortsetzen.

„Nerve“ startet am 8. September im Kino.

Abb. © Studiocanal GmbH

Nerve • USA 2016 • Regie: Henry Joost & Ariel Schulman • Darsteller: Emma Roberts, Dave Franco, Emily Meade

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