14. April 2023 1 Likes

„The Five Devils“ – So bitter-süß kann Karaoke sein

Grandioser zweiter Film von Léa Mysius („Ava“)

Lesezeit: 4 min.

So wie Vicky ihre Umgebung vor allem über ihren außergewöhnlichen Geruchssinn wahrnimmt, sollten die Zuschauer die zweite Großtat der Regisseurin und Drehbuchautorin Léa Mysius in erster Linie über Seh- und Hörsinn wahrnehmen, weswegen sich eine Inhaltsangabe eigentlich verbietet. Wurde schon im Debütfilm von Mysius („Ava“, 2017) weit mehr als eine Coming-of-Age-Geschichte erzählt, ist der Plot im Nachfolger „The Five Devils“ kaum noch greifbar, zerfasert in einer Vielzahl von verschiedenartigen Momenten, Seh-Erlebnissen, die wundersamerweise alle von einer inneren Kraft zusammengehalten werden. Dennoch, in Grundzügen: Die 11-jährige Vicky (Sally Dramé) lebt in einem Bergdorf in den französischen Alpen und hat’s als Kind eines schwarzen Vaters, Jimmy (Moustapha Mbengue), und einer weißen Mutter, Joanne (Adèle Exarchopoulos), in dieser zutiefst provinziellen Umgebung natürlich schwer, weswegen sie an ihrer Mutter klebt und sie zur Arbeit in einem Hallenbad oder zu einem Gletschersee begleitet, wo Joanne ihre nicht ganz ungefährlichen Runden dreht. Jimmy, der Papa, arbeitet als Feuerwehrmann, zwischen den Eltern ist das Feuer der Leidenschaft allerdings schon lange erloschen.

Vicky hat eine besondere Fähigkeit: Sie verfügt über einen Geruchssinn, der so gut ist, dass sie sogar den Atem von Ratten und Eichhörnchen unterscheiden kann. Aber nicht nur das: Das Mädchen sammelt nicht nur Gerüche, sondern kann sie reproduzieren und sich von ihnen in die Vergangenheit transportieren lassen, wie sie herausfindet, als Julia (Swala Emati), Jimmys Schwester, vor der Tür steht. Sie macht sich in einer Art Hexenritual dran, den Duft der von Julia herzustellen, wozu sie allerlei bizarre Ingredienzien, zusammenmischt. Doch als Vicky an ihrer Kreation riecht, schläft sie ein und wacht in der Vergangenheit wieder auf, wo nicht nur klar wird, dass Julia und Vicky auf rätselhafte Weise miteinander verbunden sind, sondern Vicky allmählich von der dramatischen Vergangenheit von Joanna, Julia und Joannas Kollegin Nadine (Daphne Patakia), deren Gesicht von Brandnarben entstellt ist, erfährt …

Beim Abspann kommt man sich noch ein wenig erschlagener vor als bei „Ava“, denn „The Five Devils“ fühlt sich noch weit mehr wie ein wild wuchernder, heftig pulsierender, in stilistisch unterschiedlichen, aber stets eindringlichen, oft wunderschönen 35mm-Bildern gewandeter Organismus an, als wie ein konventioneller Spielfilm. Das von einem eklektischen Soundtrack untermalte Narrativ mäandert wild (erstaunlicherweise ohne sich dabei aber je zu verlieren), ändert abrupt Tonlagen, erklärt mal, mal nicht, implementiert unbekümmert Genremotive wie Zeitreisen in einer Welt, die eigentlich einem strengen Naturalismus verhaftet ist. Lange Zeit ist sogar noch nicht mal klar, was genau da eigentlich erzählt wird. Es ist dieses Ungestüme, Widerborstige, Grenzen ignorierende, nach allen Seiten greifende, das bereits dem Vorgänger Kritik einbrachte und nun – interessanterweise vor allem von der US-Presse – erneut bemängelt wird.

Dabei macht Mysius im Grunde nur eins: Die Charaktere richten sich nicht wie sonst nach dem Narrativ, das Narrativ richtet sich bei ihr nach den Charakteren. Im uneingeschränkten Mittelpunkt stehen die Figuren – und die werden nicht erklärt, empfangen den Zuschauer nicht mit offenen Armen, wirken nicht geschrieben, sondern sind einfach da, definieren sich aus sich selbst heraus, und sind, wie Menschen nun mal so sind: Mal so, mal so. Dementsprechend unbeständig ist auch die Geschichte: Da – und das ist jetzt nur eine stark komprimierte Zusammenfassung – wird offen und ziemlich direkt, in fast dokumentarischer Nüchternheit, der Alltagsrassismus geschildert, den die kleine, ziemlich süß anzuschauende, unschuldig wirkende und anhängliche Vicky, die so herrlich unbeholfen die Wassergymnastikübungen ihrer Mutter nachmacht, erfahren muss, was natürlich Mitleid mit dem kleinen Mädchen aufkommen lässt. Doch als Julia, Jimmys Schwester und die ehemalige große Liebe ihrer Mutter, nach 10 Jahren wieder auftaucht, zeigt Vicky eine dunkle Seite, womit das Geschehen in die Nähe eines Sci-Fi-Horrorfilms rückt, nur um dann in ein bisexuelles Liebesdrama abzugleiten, das mit einer pathetischen, aber ehrlich und aufrichtig gemeinten, absolut großartigen, alkoholgeschwängerten Karaoke-Sequenz von Joanne und Julia zu Bonnie Tylers „Total Eclipse of the Heart“ einen der bitter-süßesten Momente der jüngeren Kinogeschichte präsentiert, welche gleichzeitig das Grundmotiv offenlegt, das ebenso durch die formale Gestaltung fließt: Freiheit.

Ein tolles Debüt, ein grandioser Nachfolger – wie schön, dass Mysius erst 34 Jahre alt ist: Da kann man sich wohl noch auf so einiges freuen!

„The Five Devils“ läuft ab dem 13.04.2023 im Kino und ist ab dem 02.06.2023 auf Mubi abrufbar.

The Five Devils (Frankreich 2022) • Regie: Léa Mysius • Sprecher: Adèle Exarchopolous, Daphne Patakia, Noée Abita, Patrick Bouchitey, Moustapha Mbengue, Sally Dramé • Abb. Mubi

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