Jenseits von jedem
Ungewissheit in Serie: „The OA“
Wer erinnert sich noch an Flatliners – dieses Hochglanzprodukt des End-Achtziger-Mainstreams mit den damaligen Sweethearts Julia Roberts und Kiefer Sutherland? Joel Schumachers Hochglanz-Thriller badete seine Megastars (u.a. waren auch noch Kevin Bacon und William Baldwin mit von der Partie) in High-End-Glow und vermählte wabernden Mystizismus mit technofizierter Science-Fiction, um ein erzählerisch hochinteressantes Konzept zu präsentieren: Nahtoderfahrungen. Eine Gruppe von Studenten überschreitet in Flatliners wiederholt die Grenze zum Jenseits – alles im Dienst der Wissenschaft, denn die jungen Akademiker wollen wissen, was danach kommt. Das Ganze wird sehr schnell sehr albern, stellt aber dennoch einen ordentlichen Beitrag zum breitenwirksamen SF-Kino der Achtziger/Neunziger dar (der Film erschien 1990).
2017 gab’s dann das unvermeidliche Remake – in der Tat eine spektakulär flache Linie von Film. Ein Jahr zuvor jedoch sorgte der aufstrebende Streamingkanal Netflix mit einem ähnlichen inhaltlichen Konzept für einen echten Coup, als quasi über Nacht The OA zum Bingewatching bereitstand. Netflix hatte gerade mit Stranger Things einen globalen Überraschungserfolg feiern können, und die Rezeption von The OA fand nun auch zunächst im Fahrwasser dieser kleinen Sensation statt. Das mag zunächst an der Veröffentlichungspolitik liegen (kaum zu glauben, aber 2016 war die Netflix-Queue noch nicht vollends mit täglichen Serienneuheiten verstopft), in erster Linie aber wohl an der zentralen Hauptfigur. Wie Eleven aus Stranger Things ist auch die blonde Protagonistin, die sich selbst „The OA“ nennt, ein Wesen mit ungeklärter Vergangenheit und außergewöhnlichen Fähigkeiten. Im Lauf beider Serien geht es im Wesentlichen darum, das Rätsel um die Herkunft dieser Kräfte und die außergewöhnliche Biografie beider Heldinnen höchst unterhaltsam aufzulösen. Doch hier enden die Ähnlichkeiten auch fast schon wieder – denn während Stranger Things auf unfassbar kompetente Weise eine Art filmischen 80er-Jahre-Quilt für Nostalgie-Fans zusammenstickt (in den sich Fans von Carpenter bis Spielberg, von Synthie-Pop bis Winona Ryder so richtig schon hyggelig einrollen können), entzieht sich The OA allen Zuordnungsversuchen und aller Bequemlichkeit.
Und das liegt vor allem an den Machern: Hauptdarstellerin Brit Marling ist ganz nebenbei auch noch Autorin und Erfinderin dieser Geschichte. Zusammen mit Zal Batmanglij, der hier als Co-Autor und Regisseur fungiert, ist Marling bereits seit Jahren eine der treibenden Kräfte des unabhängigen SF-Kinos; ähnlich wie der großartige Shane Carruth (Upstream Color) oder Justin Benson und Aaron Moorhead (The Endless) verknüpfen Marling, Batmanglij und eine Reihe weiterer Kollaborateure wie Regisseur Mike Cahill in ihren außergewöhnlichen Filmen hochspannende SF-Ideen mit Sundance-Ästhetik, narrativen Experimenten, emotionaler Wahrhaftigkeit und vor allem endloser Unberechenbarkeit. Die Themen sind dabei nicht selten spiritueller Natur; ob es um Vergebung und Erlösung geht (Another Earth), das schwierige Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion (I Origins) oder das Spannungsfeld aus Glauben und Skeptizismus (Sound of My Voice) – in diesen Filmen sind Tentakelmonster aus dem Fantasy-Schattenreich eher die Ausnahme.
Nun also The OA. Marling & Co. widmen sich in ihrer ersten seriellen Produktion dem alten Flatliners-Thema der Nahtoderfahrung auf für sie typische Art – nämlich völlig unvorhersehbar. Die von Marling unglaublich intensiv und fast schon schmerzhaft nahbar dargestellte Protagonistin taucht eines Tages in ihrer amerikanischen Heimat wieder auf, nachdem sie jahrelang verschollen war. Rätselhafte Narben entstellen ihren Rücken, ihr Verstand scheint vernebelt – und sie kann sehen, obwohl sie bei ihrem Verschwinden noch ein kleines blindes Mädchen war. The OA, die eigentlich Prairie heißt, aber ursprünglich auf den Namen Nina getauft wurde (es ist kompliziert), kehrt ins Haus ihrer Adoptiveltern zurück und beginnt den langsamen Prozess des Wiedereinlebens. Dabei begegnet sie einer Gruppe von weiteren Außenseitern, die sie bald zu einer zerbrechlichen Gemeinschaft formt, um … tja, das darf man wirklich nicht verraten, denn wo Marling draufsteht, ist auch Marling drin.
Und das bedeutet: Alles, was man anfangs erwartet, tritt definitiv nicht ein. Die acht Episoden (die je nach Bedarf zwischen 31 und 71 Minuten dauern), unterlaufen nach Strich und Faden jegliche Konvention und strecken alle Qualitäten aus dem filmischen Werk der Macher souverän auf Serienlänge. Die Geschichte, die auf zwei Zeitebenen OAs schwieriges Leben nach ihrer Rückkehr und ihre spektakuläre Vergangenheit gegeneinander ausbalanciert, bietet jedoch keine Plot-Twists um ihrer selbst willen. Vielmehr entstehen die vielen Haken, die diese hochgradig originelle Geschichte schlägt, aus der kongenialen Vermählung der empathisch gezeichneten Figuren mit dem mystischen Grundkonzept des Nahtoderlebens. Und mystisch wird es in der Tat, wenn Marling und Batmanglij sich auf ihr Konzept stürzen: Alte Vetteln kredenzen magische Sittiche, ekstatische Körper winden sich in Contemporary-Dance-Choreos, eine Leinwand aus Sternen wird zur Kammerspielbühne, ein Licht linst aus der Dunkelheit und die Engel singen.
Auf der anderen Seite: Highschools, FBI-Psychologen, winterliche Vorstadt-Tristesse, Wolldecken und Jogginghosen. Ähnlich wie seine Heldin wandert The OA – die Serie – permanent zwischen den Welten hin und her, schlüpft vielmehr hindurch, lässt sich nie ganz greifen und ist doch immer im Detail völlig greifbar. Was nicht zuletzt an der erprobten Indie-Ästhetik und den fantastischen Darstellern liegt – neben Marling überzeugen u.a. Jason Isaacs (der sinistre Discovery-Captain aus dem Paralleluniversum) als getriebener Wissenschaftler, Alice Krige als verzweifelte Adoptivmutter oder das komplette Ensemble jugendlicher Outsider. Ein ambitionierter Materialmix, der sich völlig ernst nimmt, ohne dabei verbissen, borniert oder prätentiös zu werden. Wobei die Grenzen durchaus fließend sind: Es gehört zu den größten Highlights beim Gucken dieser Serie, immer wieder Zeuge zu werden, wie sie sich wieder fängt, sobald sie in esoterischen Kitsch abzudriften droht. Ein erzählerisches Meisterstück.
Die erste Staffel endet so, wie man es bei diesem Team erwarten kann: völlig unerwartet. Und mit einem genuinen Gänsehautmoment, einer emotionalen Katharsis, die vieles von dem Gesehenen zusammenführt und dennoch mindestens genauso viel im Ungewissen lässt. Genug Stoff also für eine zweite Staffel, die – wie man hört – noch experimenteller daherkommt. Wer Staffel eins gesehen hat, wird sich jedenfalls nur zu bereitwillig auf dieses Experiment einlassen. Wie geht es weiter mit The OA, Homer, Hap und den anderen (gefallenen) Engeln? Ab dem 22. März gibt es die Antwort auf Netflix.
The OA ist auf Netflix zu sehen. Die zweite Staffel startet am 22. März 2019.
The OA – USA 2016/2019 - Regie: Zal Batmanglij u.a. – Darsteller: Brit Marling, Jason Isaacs, Alice Krige, Riz Ahmed, Emory Cohen, Patrick Gibson
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