16. Februar 2019 1 Likes

Superdysfunktionale Superfamilie

Neu auf Netflix: „The Umbrella Academy“

Lesezeit: 5 min.

2007 sorgte Gerard Way gerade als Songwriter und Sänger der Emo-Pop-Punk-Rock-Band My Chemical Romance für Furore. Dennoch fand der Amerikaner die Zeit, seine Liebe für Comics und speziell die Stoffe des englischen Autors Grant „Doom Patrol“ Morrison in einem eigenen, postmodernen Superhelden- bzw. Science-Fiction-Comic zu kanalisieren: „The Umbrella Academy“ (auf Englisch bei Dark Horse, Deutsch bei Cross Cult). Way schrieb die Scripts für die US-Hefte auf Tournee, und der Brasilianer Gabriel Bá zeichnete, so weit das möglich war, bis Way neues Material schickte. Für den ersten Sechsteiler „Weltuntergangs-Suite“ gab es verdientermaßen einen Eisner Award, dem folgte der zweite starke Sechsteiler „Dallas“ – danach kam, trotz überschwänglicher Kritiken und Lobeshymnen von Morrison und Neil Gaiman, über zehn Jahre erst mal nichts mehr, obwohl bereits eine dritte Comic-Mini und eine Verfilmung angekündigt waren.

Der 1977 geborene Way trug zwischenzeitlich My Chemical Romance zu Grabe, startete seine Solokarriere, realisierte den Comic „The True Lives of the Fabulous Killjoys“ mit Becky Cloonan und lancierte das interessante DC-Imprint Young Animal, das er als Kurator steuerte und unter dessen Banner er selbst eine neue „Doom Patrol“-Serie vorlegte. Der 1976 geborene Bá zeichnete indes diverse Geschichten aus dem Hellboy-Universum und präsentierte mit seinem Zwillingsbruder Fábio Moon z. B. die fantastische, Eisner-prämierte Vertigo-Maxiserie „Daytripper“. Erst durch die Ankündigung einer Netflix-Serie kam 2017 wieder Bewegung in die Umbrella Academy. Die dritte Comic-Miniserie „Hotel Oblivion“ wurde Ende 2018 endlich in den Staaten gestartet, und am 15. Februar 2019 schlugen die ersten zehn Folgen der Netflix-Adaption zum Streamen auf (kurioserweise parallel zum Piloten der „Doom Patrol“-Fernsehserie).


Violinistin Vanya (Ellen Page), Schimpanse Pogo (Adam Godley) …

Im Netfix-Remix von „The Umbrella Academy“ dreht sich, wie in den Comics, alles um eine superdysfunktionale Superfamilie. Diese geht auf unerklärliche Spontanschwangerschaften und die Geburt mehrerer Kinder mit außergewöhnlichen Fähigkeiten zurück. Der Milliardär, Wissenschaftler und Abenteurer Sir Reginald Hargreeves (Colm Feore aus „House of Cards“) adoptiert sieben der Babys und will in seiner Stadtvilla, eben der Umbrella Academy, mithilfe des sprechenden Schimpansen Pogo (Adam Godley aus „Suits“ und viel CGI) und der Androidenmutter Grace (Jordan Claire Robbins aus „12 Monkeys“) eine Heldentruppe aus ihnen schmieden – die Superkinder sollen die Welt beschützen. Doch Hargreeves’ Erziehungsmethoden sind nicht unbedingt von Liebe geprägt, und dann stirbt auch noch einer seiner Schützlinge. Die junge Heldengruppe zerfällt, so gut wie alle verlassen die Academy. Jahre später, bei Hargreeves Beerdigung, kommen sie wieder zusammen.


… und schießende Cartoons. „The Umbrella Academy“, Netflix

Die Risse zwischen den Adoptivgeschwistern und ihre individuellen Versehrungen erscheinen jedoch noch immer gravierend: Der massige Körper von Anführer Luther (Tom Hopper aus „Black Sails“) wurde experimentell verändert, danach lebte er lange als einsamer Wächter auf dem Mond. Diego (David Castaneda aus „Sicario 2“) versucht, als messerwerfender Vigilant nach wie vor für das Gute zu kämpfen. Allison (Emmy Raver-Lampman aus „A Million Little Things“) hat als Mutter schwere Rückschläge einstecken müssen und ihrer Kraft, andere mit Gerüchten zu beeinflussen, abgeschworen. Medium Klaus (Robert Sheehan aus „Misfits“) verfiel Drogen und Wahnsinn, Violinistin Vanya (Ellen Page aus „Inception“ und „X-Men“) veröffentlichte ein Enthüllungsbuch über ihre Familie. Nummer Fünf (Aidan Gallagher aus „Nicky, Ricky, Dicky & Dawn“), der durch Raum und Zeit springen kann, war jahrzehntelang in der Zukunft verschollen und sah das Ende der Welt – und kam als Teenager just in die Gegenwart zurück. Ausgerechnet diese Truppe soll die Apokalypse abwenden? Unwahrscheinlich bei all dem Schmerz und all den Problemen. Wahrscheinlich sind sie eher leichte Beute für Hazel (Sängerin Mary J. Blige) und Cha-Cha (Cameron Britton aus „Mindhunter“), zwei Auftragskiller aus der Zukunft, die den heimgekehrten Nummer Fünf jagen und die Academy angreifen …

Die Netflix-Umsetzung der Comics durch das Team von Showrunner Steve Blackman („Fargo“, „Altered Carbon“) und Pilotautor Jeremy Slater („Death Note“) überzeugt. Man bleibt der Panel-Vorlage treu genug, arrangiert die Story und die Figuren aber nicht sklavisch dem Original entsprechend, viel mehr werden neue Handlungsabfolgen, Elemente, Figuren und Motive hinzugefügt – ein Mehrwert für Fans der Comics. Zudem haben die Figuren und ihre Konflikte in der TV-Interpretation mehr Platz als in den Bildergeschichten. Die Superheldenmissionen-Rückblenden über die Kids mit den Regenschirm-Tattoos mögen nicht so spektakulär verrückt ausfallen wie in den gezeichneten Heften und Sammelbänden, die Charaktere profitieren allerdings vom Raum, den man ihnen gibt, und wachsen über die Comics hinaus.


Zwei Seiten aus der Comicvorlage. „The Umbrella Academy“, Dark Horse, Cross Cult

Natürlich nimmt man die Musik in einer Fernsehserie mit Input von Gerard Way ernst: Der Soundtrack von „The Umbrella Academy“ ist letztlich so variabel wie die Geschichte und Erzählweise der Serie. Für jede Szene gibt es die passende Untermalung, vom klassischen Geigenspiel bis hin zu Queen oder Morcheeba: wenn es witzig zugeht, wenn brutal gekämpft oder gefoltert oder gemordet wird, wenn die Düsternis oder der Schmerz überhand annehmen, wenn es abgedreht wird oder wenn „Doctor Who“ grüßen lässt. Die akustische Begleitung schmeichelt der gelungenen visuellen Inszenierung jederzeit. Stephen Surjik („Burn Notice“), Ellen Kuras („Vergiss mein nicht!“) und ihre Kollegen ziehen bei der Regie wiederum alle Register, um cineastische Anmutung und Qualität mit der ungezügelten, übermütigen Kreativität zeitgenössischen Mainstream-Serienfernsehens zu verbinden. Diese Kombination, eine besondere Kameratechnik, eine offensichtliche Vorliebe für Wes Anderson und z. B. Effekte von Weta FX („Der Herr der Ringe“, „Planet der Affen“) verschmelzen zu einem knapp zehnstündigen Film mit enormer Anziehungskraft – wie lief das früher eigentlich ohne Binge-Watching? Insofern ist das Ganze auch eine Bestandaufnahme der multimedialen Superhelden-Tropen und des Serien-TVs von Heute.

Wer Netflix’ „The Umbrella Academy“ schaut und die absolut lesenswerten Comics noch nicht kennt, den erwartet eine gute Genre-Serie der etwas anderen Art. Fans der Panel-Storys erfreuen sich wiederum an einem erweiterten, oftmals überraschenden Alternativwelt-Remix der Comics und daran, dass die ebenbürtige TV-Serie der Vorlage sogar Elemente, Einsichten und Enthüllungen hinzufügt, die sich bestens in den Kanon einordnen.

Bilder: © 2019 Netflix

The Umbrella Academy – Staffel 1 • Creator: Gerard Way, Gabriel Bá, Jeremy Slater • Darsteller: Ellen Page, Tom Hopper, David Castaneda, Emmy Raver-Lampan, Robert Sheehan, Aidan Gallagher, Mary J. Blige u. a. • Laufzeit: 10 Episoden mit je ca. 50 Min.

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