9. Oktober 2020 2 Likes

„Zombi Child“: Von Liebeskummer und lebenden Toten

Bertrand Bonellos poetischer Untoten-Film

Lesezeit: 4 min.

Kein ungeschickter Schachzug: Als die Kunde laut wurde, dass Bertrand Bonello (Haus der Sünde, Saint Laurent, Nocturama) als Nächstes einen Zombie-Film dreht, war die Neugierde natürlich extra groß. Einen Zombiefilm! Sollte sich der extravagante Zelluloid-Künster tatsächlich aufs Mainstream-Parkett wagen, zudem noch mit einem Beitrag zu einem Genre, das in den letzten Jahren im Überfluss bedient wurde?

Wie aber schon das fehlende „e“ im Titel „Zombi Child“ andeutet (bei „Zombi“ handelt es sich um die ursprüngliche, haitianisch-französische Schreibweise) und wir letztendlich auch nichts anders erwartet haben, fährt der Franzose unbeirrt auf seiner ganz eigenen Schiene weiter und ergründet in einer freien, assoziativen Mischung aus quasi dokumentarischerer Geschichtsaufarbeitung und Jugendfilm die Ursprünge des Zombie-Mythos und dessen Nachhall bis heute.

Zu diesem Zweck installiert Bonello zwei Handlungsstränge auf unterschiedlichen Zeitebenen, lässt Realität und Fiktion gleichzeitig ablaufen, bleibt aber in Hinblick auf die direkte Verbindung bedeutungsoffen.

Die wahre Geschichte (von der übrigens Wes Cravens sehenswerter, aber leider etwas unter dem „Nightmare on Elm Street“-Franchise begrabener Film „ Die Schlange im Regenbogen“ von 1986 inspiriert wurde) lautet so: 1962 bricht auf einer Straße Haitis ein Mann mit Namen Clairvius Narcisse (Mackenson Bijou) tot auf der Straße zusammen, wird beerdigt, erwacht als Zombie wieder und muss zusammen mit anderen Kreaturen in einem tranceartigen Dämmerzustand auf einer Zuckerrohrplantage arbeiten. Nur mit viel Glück findet er wieder den Weg ins Leben und nach Hause zurück.

Der fiktive, etwas an den „Club der toten Dichter“ erinnernde Part, ereignet sich 55 Jahre später im renommierten, streng katholischen Internat Maison d’éducation de la légion d’honneur in Saint-Denis am Stadtrand von Paris, in das nur Mädchen aufgenommen werden, deren Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern militärische Medaillen erhalten haben, Mitglieder des Ordens der Ehrenlegion oder des nationalen Verdienstordens sind. Die Schülerin Fanny (Louise Labeque) ist gemeinsam mit ihren Klassenkameradinnen Salomé, Romy und Adele Teil einer geheimen Schwesternschaft, die beschließen, Mélissa (Wislanda Louimat) aufzunehmen, die bei einem Erdbeben auf Haiti ihre Eltern verloren hat und nun in Frankreich bei ihrer Tante wohnt. Als Initiationsritus muss Mélissa allerdings etwas von sich erzählen, etwas, das die Mädchengang schwer beeindruckt. Darauf offenbart Mélissa, übrigens die einzige Schwarze in dem rein weißen Internat, nicht nur, dass Narcisse ihr Großvater war, sondern auch, dass in ihrer Familie Voodoo praktiziert wird. Ein Umstand, der Fanny auf eine Idee bringt, denn sie möchte nur allzu gern ihren Schwarm Pablo, der sich von ihr getrennt hat, für immer an sich binden …

Auch wenn das Thema Kolonialismus im Hintergrund stets präsent ist – die aus wohlhabendem Hause stammende Fanny versucht Mélissas voodoo-praktizierende Tante auf die ihr einzig bekannte Art und Weise, nämlich mit viel Geld, für ihre banalen Pläne einzuspannen, um sich diesen Teil der Kultur Hawaiis zu eigen zu machen, führt Bonello frei von jeglicher Bedeutungshuberei durch sein Szenario und lässt dabei reichlich Platz für eigene Gedanken. Er stellt die Sklavenarbeit auf der Plantage den durch und durch kontrollierten, trostlosen Internatsalltag der Mädchen entgegen, er kontrastiert die Visionen des zombifizierten Narcisses von seiner Frau mit Fannys kitschig-überhöhten Kleinmädchen-Träumereien von Pablo, er verweist im Dialog und in einem kurzen, grellen Trailer mit einem Augenzwinkern auf die heutige, popkulturell fest verankerte Ausprägung des Zombie-Mythos, die mit dem Ursprünglichen natürlich nicht mehr viel zu tun hat, und er zeigt Mädchen, die tun, was Mädchen in dem Alter nun mal so tun – fragwürdige Songs singen, sich gegenseitig in den sozialen Netzwerken auskundschaften, nach Jungs Ausschau halten. Und er zeigt in einem beeindruckenden Finale, wie zwei Lebensrealitäten miteinander kollidieren.

Dass „Zombi Child“ trotz dieser lockeren Struktur, obwohl der Film mehr dahingleitet als eine tatsächliche Dramaturgie zu entwickeln, nicht auseinanderbricht, nie am Zuschauer vorbeigeht, ist Bonellos Inszenierungskunst zu verdanken. Die ungemein starken, direkt auf Haiti gedrehten, dunklen, morbid-poetischen Bilder ringen dem Zombie-Mythos ungesehene visuelle Seiten ab. Außerdem punktet der Regisseur erneut mit seinem Händchen für jugendliche Charaktere, denn die wirken sehr natürlich, und so fühlt man mit Fanny trotz ihres etwas manischen und respektlosen anmutenden Auftretens irgendwie auch mit. Wir waren ja schließlich alle mal jung und unverschämt.

Natürlich, Puristen werden erstmal die Hände über den Kopf zusammenschlagen, aber eigentlich sollten gerade Zombiefans dieses Mosaik aus den verschiedensten Eindrücken und Stimmungen besonders tief in ihr Herz schließen, denn „Zombi Child“ schwimmt erfolgreich zu neuen Ufer und das ist letztendlich der größte Liebesdienst, dem man einem Genre erweisen kann.

„Zombi Child“ läuft seit dem 8.10.2020 im Kino. Abb.: Grandfilm

Zombi Child • Frankreich 2019 • Regie Bertrand Bonello • Darsteller: Louise Labeque, Wislanda Louimat, Mackenson Bijou

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