31. Dezember 2016 2 Likes

Das All kennt keine Gnade

Zu Silvester geht es in Rob Boffards Story „Amira“ auf Außenerde richtig rund

Lesezeit: 29 min.

Wer Rob Boffards rasanten Space-Thriller „Tracer“ (im Shop) gelesen hat, der erinnert sich bestimmt auch noch an Amira Al-Hassan, die ebenso knallharte wie mysteriöse Anführerin der Teufelstänzer, die das ein oder andere schmutzige Geheimnis verbirgt. Und wer sich bei der Lektüre von „Tracer“ gefragt hat, wie Amira eigentlich zu der Frau wurde, die sie heute ist, dem sei hier die Antwort gegeben. Pünktlich zu Silvester feiert Rob Boffard in seiner Bonusstory „Amira“ ein rasantes Action-Feuerwerk ab und wünscht damit seinen Lesern ein gutes neues Jahr.

___

 

Amira

 

Ich werde schlagartig wach, strampele mit den Füßen, werfe die Decke, die sich darum gewickelt hat, auf die andere Seite des Nests.

Mit der rechten Hand reibe ich die Fingerstummel meiner linken. Ich spüre das Brennen der Erfrierung. Ich weiß, dass die Empfindung nicht real ist, aber das hält mich nicht davon ab, das raue Fleisch zu berühren. Meine Finger erkunden die Stelle, wo Mittel- und Zeigefinger waren.

Ich zwinge mich, meine Atmung zu kontrollieren. Ich nehme längere Züge, presse die Luft in meine Lunge, atme jedes Mal vollständig aus. Die Matratze unter mir ist von meinem Schweiß getränkt. Ich werde sie umdrehen müssen. Und ich bete, dass keiner der anderen den Geruch bemerkt.

Die anderen. Ich blicke mich im Nest um, aber ich bin allein. Nicht einmal Carver ist da, obwohl er zu dieser nächtlichen Stunde normalerweise an seiner Werkbank an irgendetwas bastelt. Ich beneide ihn, in gewisser Weise – er schläft nicht gern, aber wenn doch, kann er in wenigen Minuten wegdämmern, um anschließend erfrischt aufzuwachen. Ich bin anders. Der Schlaf heißt mich willkommen, zieht mich in seine warme Umarmung, und dann lässt er mich im Stich.

Ich zittere. Ich krieche zur Decke, hole sie zurück, hülle mich hinein und ziehe sie bis unters Kinn, wie ein Kind, das sich einkuschelt. Nach ein paar Minuten hört mein Körper auf zu zittern. Manchmal schaffe ich es, wieder in die Dunkelheit zurückzugleiten. Doch in dieser Nacht wird das nicht geschehen.

Seufzend greife ich über meine Schulter nach meinen Zopf. Nicht mehr allzu viele Leute tragen ihr Haar lang, weil es so schwierig ist, es sauber zu halten, aber ich mag es so. Ich benutze ein altes Gummiband, um es zusammenzubinden, und als ich mein schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz bündele und das Band darumlege, denke ich an den Traum, der mich aus dem Schlaf gerissen hat.

Es ist über zehn Jahre her. Und ich kann es nicht abschütteln. Manchmal verschwindet es für einige Monate, doch es kommt immer wieder angekrochen. Zuerst langsam, dann immer schneller, um meinen Schlaf in zwei Teile zu zerbrechen, dann drei, bis es nur noch Scherben sind.

Meine Kehle ist ausgetrocknet. Ich taste mit den Fingern über den Boden, suche nach meiner Wasserflasche, bis ich sie finde und einen Schluck nehme. Das Wasser ist eiskalt, doch diesmal ist es eine gute Kälte. In der Stille des Nests kann ich das Rumoren der Maschinen hören, das durch die Wände sickert. Luftpumpen und Energieleitungen und Wasserspender, allesamt dazu da, uns am Leben zu erhalten.

Außenerde, die Raumstation, auf der wir leben, ist ein einfacher Metallring. Er hat einen Durchmesser von zehn Kilometern und erzeugt durch seine Rotation künstliche Schwerkraft. Die allerletzten Menschen des Universums leben innerhalb dieses Rings, über sechs Hauptebenen verteilt. Das Nest ist zwischen zwei dieser Ebenen eingekeilt – ein paar vergessene alte Lagerräume, bis wir sie fanden und sie zu unserem Zuhause machten. Niedrige Decken, sehr wenig Heizung, minimale Beleuchtung. Ein paar Decken und Matratzen. Carvers Werkbank.

Das Nest ist kaum an das Stromnetz angeschlossen, wie ein Arbeiter auf einem Außeneinsatz, der nur durch ein dünnes Kabel mit der Station verbunden ist. Aber genau so mögen wir es. Es ist unser Nest. Unordentlich, kalt und schmutzig, aber unseres.

Es ist der einzige Ort in der Station, die uns gehört. Klar, wir erledigen überall unsere Jobs, transportieren Pakete und Nachrichten für die etwa eine Million Menschen an Bord im Austausch für Lebensmittel und andere Sachen, aber es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass wir tatsächlich willkommen sind. Ich weiß genug über die Geschichte der Erde, um zu wissen, dass Boten eher toleriert als respektiert wurden. Sie standen auf der untersten Sprosse der gesellschaftlichen Leiter. Seit hundert Jahren hat niemand mehr einen Fuß auf den Planeten gesetzt, aber an daran hat sich nichts geändert.

Ich stehe auf. Meine Beine sind steif, die Muskeln schmerzen. Ich benutze die Toilette im Zimmer nebenan, dann die Luftdusche, und dabei überlege ich, was ich tun könnte. Das ist das Problem, wenn man ein Tracer ist – wenn man gerade keinen Job hat, wenn man nicht rennt, wenn man nicht schlafen kann, wenn einen die Langeweile schleichend überwältigt. Carver hat seine technischen Spielereien. Die Zwillinge haben einander. Unser Tracer-Team heißt »Die Teufelstänzer«, und von uns fünf weiß nur Riley, wie es wirklich ist, und selbst sie scheint eine Kraft in sich zu haben, die sie vorantreibt, die sie durch die stillen Phasen zieht. Und was hast du, Amira?

Tayta.

Ich habe Tayta.

Sie wird mir helfen. Und sie dürfte wach sein, ganz bestimmt. Sie ist vermutlich die einzige Person in der gesamten Station, die noch weniger schläft als ich. Also ziehe ich mir die Schuhe an. Dann nehme ich mir den Schal vom Haken an der Wand und lege ihn mir um den Hals. Das Rot ist verblasst, das geometrische Muster fast nicht mehr erkennbar. Der Stoff ist nach langer Benutzung verschlissen, aber das ist mir egal. Es ist Taytas alter Schal, und er ist immer warm, ganz gleich, wie kalt es in der Station ist.

Ich verlasse das Nest, verschließe die Haupttür hinter mir und lasse mich in den Korridor fallen. Tayta lebt im Sektor Neu-Deutschland. Ich könnte losrennen und wäre in zwanzig Minuten da, aber meine steifen Beine sagen mir, dass ich es langsam angehen sollte.

In einem anderen Korridor hat jemand ein Feuer entzündet. Womit, ist mir nicht klar, aber es spendet einen warmen Schein. Rost sprenkelt die Korridorwände, und das Feuer verwandelt jeden Fleck in einen golden glänzenden Punkt. Eine Gruppe von Leuten hat sich darum zusammengekauert. Einer von ihnen, ein junger Mann, nickt mir freundlich zu, als ich vorbeigehe, deutet auf das Feuer.

Wie es aussieht, ist keiner von ihnen bewaffnet. Die meisten bemerken mich nicht einmal. Soweit ich erkennen kann, sind sie alle etwa im gleichen Alter wie der junge Mann, die gleiche zerlumpte Kleidung, die gleiche schlaffe Haltung. Eine Gang? Schwer zu sagen. Aber ich bilde mir etwas darauf ein, sofort zu bemerken, wenn ich in Gefahr bin, und hier spüre ich nichts davon. Es ist nur eine Gruppe müder Menschen, die sich ein warmes Plätzchen gesucht hat. Ich dränge mich in den Kreis, strecke die Hände zum Feuer aus.

»Willst du Tee?«, fragt der Mann, der mir zugenickt hat. Er ist kaum älter als zwanzig. Seine dunklen Augen flackern im Feuerschein. »Es ist Pilztee? Für alles, was du tauschen kannst, bekommst du einen Becher?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, danke.«

Er lächelt, zeigt verfärbte Zähne. »Dann genieß das Feuer, solange es brennt? Ich versuche, es rauchfrei zu halten, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Feuermelder Alarm schlagen und die Stomper angerannt kommen?« Er hat eine eigenartige Sprechweise, jeder Satz klingt wie eine Frage, wenn sich am Ende der Ton hebt, wie bei einem ausgefransten Stück Seil. Er wendet sich wieder den Flammen zu, nimmt einen Schluck aus seinem Becher. Das Zeug riecht ranzig, aber es stört mich nicht allzu sehr.

»Du bist ein Tracer, was?«

Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, dass er mit mir spricht. »Richtig.«

»Kann ich dich anheuern? Ich meine, ich habe ein Paket, das ausgeliefert werden müsste? Es sollte recht schnell und heil ankommen?«

Es schmerzt mich, einen Auftrag abzulehnen, aber ich bringe es im Moment nicht fertig. Nicht solange der Traum noch immer meine Finger brennen lässt.

»Ich habe schon einen Job«, lüge ich. »Eine Nachricht überbringen«, füge ich hinzu, als er einen Blick dorthin wirft, wo sich mein Rucksack befinden sollte.

»Es würde sich für dich lohnen?«, sagt er. Sein Atem weht mir entgegen, und ich rümpfe die Nase, als ich den Pilzgeruch wahrnehme.

Ich will gerade erneut ablehnen, als ich höre, wie jemand vom anderen Ende des Korridors angerannt kommt. Ich muss nicht aufblicken, um zu wissen, dass es ein anderer Tracer ist, aber als ich es tue, sehe ich, dass es jemand ist, den ich kenne. Anna Beck. Sie ist sogar noch einige Jahre jünger als der Mann mit dem Pilztee, aber sie ist gut. Sie läuft mit einem Team im Sektor Tzevya, und soweit ich weiß, nimmt sie jeden Auftrag an, der ihr angeboten wird.

Ich winke sie herüber, und sie wird langsamer, schwer atmend. Ihre Lieferung befindet sich einem Stoffbeutel, den sie sich locker über die linke Schulter gehängt hat, und plötzlich bin ich sehr stolz auf die praktischen Rucksäcke, die Carver für uns gemacht hat.

»Amira«, sagt Anna, nickt mir zu und blickt auf die Gruppe rund ums Feuer. Ihr blondes Haar quillt unter einer Wollmütze hervor. »Dauert es lange? Ich habe einen Job.«

»Das sehe ich«, sage ich. »Wie würde dir ein weiterer gefallen? Betrachte es als Bonus.«

Sie runzelt die Stirn. Normalerweise lehnt ein Tracer keine Arbeit ab. »Wo ist der Haken?«, fragt sie mit dem leisen Näseln, das man bekommt, wenn man im Tzevya-Sektor aufwächst.

»Es gibt keinen Haken. Nur dass ich … zu tun habe. In diesem Moment«, sage ich und deute auf den Mann mit dem Pilztee.

Anna rümpft die Nase, als er sich näher heranbeugt. »Hallo, Jenner«, sagt sie. »Hast du nichts Besseres zu tun, als meine wertvolle Zeit zu beanspruchen?«

Ich nicke zu Jenner. »Ihr kennt euch?«

»O ja«, sagt Anna.

Jenner grinst. »Ich möchte etwas nach oben in den Garten liefern lassen, okay? Ich kann dir dafür etwas Pilztee geben?«

Anna lacht tatsächlich.

»Na gut«, sagt Jenner verlegen. »Wie wäre es dann mit ein paar Gewürzen? Hab sie selbst gezüchtet?« Aus dem Nichts zieht er einen Stoffbeutel hervor, der in seiner Handfläche winzig wirkt. Ein neuer Duft macht sich bemerkbar – Zimt, glaube ich.

Anna denkt einen Moment lang nach, dann zuckt sie mit den Schultern und lässt den kleinen Beutel verschwinden. Jenner reicht ihr ein weiteres Paket, das in ein schmutziges Tuch gewickelt ist.

Anna wirft es in ihren Beutel. »Wohin soll es gehen?«, fragt sie.

»Du kennst Oren Darnells Büro? Gib es einfach dem Wachposten davor? Sag ihm, von wem es ist? Jackie Jenner? Das bin ich?«

Anna sieht mich an. Offiziell leitet Darnell das Luftlabor, das dafür sorgt, dass wir weiteratmen können. Inoffiziell ist er für jede Gaunerei in diesem Sektor verantwortlich. Ich vermute, das Paket enthält eine Tributzahlung – Steuern, die Darnell von anderen Teams für ihre Aktionen einzieht. Das bedeutet, dass Jenner und seine Freunde zu einer Gang gehören.

Anna zwinkert Jenner zu und rennt los, tippt mir im Vorbeiflitzen auf die Schulter. Ich hebe meine Hand zum Gruß. Plötzlich möchte auch ich von hier verschwinden, mehr als alles andere, und ich nicke Jenner noch einmal zu, bevor ich durch den Korridor davonjogge.

Taytas richtiger Name lautet Alicia Nouri. Ich brauche immer eine Sekunde, um mich daran zu erinnern, weil sie von Anfang an meine Tayta und keine andere war. Sie wohnt in einem Habitat auf der obersten Ebene von Chengshi. Vor langer Zeit lebte dort meine gesamte Familie. Jetzt ist nur noch sie übrig, und bislang hat sie sich alle Mühe gegeben, jeden anderen aus ihrem Quartier herauszuhalten.

Sie ist wach, wie ich vermutet habe, und als sie die Tür öffnet, strahlt sie übers ganze Gesicht. Die endlosen Falten rund um die Augen strecken und verziehen sich, als sie lächelt. Ich sehe mich selbst in ihr: das gleiche schmale Gesicht, die gleichen vollen Lippen.

»Mira!«

»Wie geht es dir, Tayta?«

Sie wirft die Hände hoch. »Wenn du so mit mir sprechen willst, kannst du gleich weiterrennen.«

Ich lächle. »Marhabaa, tayta, keef halek il youm?«

»Es geht mir gut, danke, mein Kind«, antwortet sie in einem Arabisch, das viel besser ist als meins. »Komm herein, komm herein.«

Jedes Mal, wenn ich dieses Habitat besuche, komme ich mir vor, als würde ich eine Märchenwelt betreten. Farbenfrohe Stoffe hängen von der Decke, streuen das Licht von oben. Ein alter Tisch steht an der linken Wand, die Oberfläche schartig von alten Messerschnitten. Haufen aus getrockneten Kräutern liegen auf dem Tisch, zwischen kleinen Topfpflanzen, und der Raum riecht nach Koriander und Zimt. Taytas Waffe, ein riesiges Hackmesser, liegt in ein Wachstuch gehüllt auf dem kleinen Bett.

»Ich wünschte, ich hätte gewusst, dass du kommst, Mira«, sagt Tayta. Sie hat irgendetwas am hinteren Ende des Tischs gemacht, doch nun dreht sie sich um und hält mir eine dampfende Tasse hin. Die Flüssigkeit schwappt über die Seite, ein paar Tropfen spritzen auf ihre Finger. Sie zuckt nicht zusammen. »Hier. Trink!«

Der Tee ist aus einer Kräuterpflanze gemacht, die ich nicht einordnen kann – ein voller und bitterer Geschmack, Lichtjahre weit von dem üblen Zeug entfernt, das Jenner getrunken hat. Ich hocke mich im Schneidersitz auf den Boden, halte die Tasse mit beiden Händen, die Augen geschlossen. Ich bin in meiner eigenen Welt, als Tayta sagt: »Aber du bist nicht nur gekommen, um dich ein wenig mit einer alten Frau zu unterhalten, nicht wahr?«

Sie spricht immer noch Arabisch, was bedeutet, dass sie mich nicht so schnell gehen lassen wird. Ich nippe vom Tee, inhaliere den Kräuterduft, versuche Zeit zu gewinnen, um in meinem Gedächtnis nach den richtigen Worten zu suchen.

»Ich hatte wieder diesen Traum«, sage ich.

Sie schüttelt den Kopf. »Das hat nichts zu bedeuten, Mira. Es ist viele Jahre her. Es in deinem Kopf immer wieder aufleben zu lassen … alte Erinnerungen sollte man ruhen lassen.«

»Es ist ein Traum«, sage ich. »Das heißt, ich kann es mir nicht aussuchen.«

Sie starrt mich an. Ich lasse mit der rechten Hand die linke los, wo ich mir die Stümpfe massiert habe. Mir war nicht einmal bewusst, dass ich es getan habe oder dass ich die Tasse auf den Boden gestellt habe.

Tayta setzt sich umständlich, zieht mit dem Fuß einen Hocker heran, dreht sich hierhin und dorthin, bis sie es endlich bequem hat. »Weißt du, wie der Islam Träume interpretiert hat?«

»Erzähl mir nicht, dass du auf einmal religiös geworden bist.«

»Du müsstest mich besser kennen, Kind. Aber meine Mutter – deine Urgroßmutter – war gläubig. Sie wurde auf der Erde geboren, weißt du, in dem Land, das man damals als Vereinigte Arabische Emirate bezeichnete, von wo aus die ersten Shuttles starteten. Sie kam hierher, als sie vierzehn war.«

»Ich weiß, Tayta. Du hast es mir schon erzählt.«

»Gut, und jetzt erzähle ich es dir noch einmal, also sei still.« Sie hebt einen knochigen Finger. »Sie erklärte mir einmal, dass es drei Arten von Träumen gibt.«

Ich nippe erneut vom Tee. »Also gut, Tayta«, antworte ich in einem Singsang-Tonfall. »Welche drei Arten von Träumen gibt es?«

»Da wäre zunächst der Wahrtraum, der rahmani«, sagt sie, ohne auf meinen Tonfall einzugehen. »Dann der Traum, der einem persönlichen Wunsch entstammt, den man nafsani nennt. Und schließlich der Traum, der vom Teufel kommt, der shaytani

»Und was ist mein Traum?« Mit einem Mal brennen meine fehlenden Finger wieder. Ich beachte es nicht weiter.

»Ausgezeichnete Frage. Ich glaube nicht an den Teufel, und ich kann mir erst recht nicht vorstellen, dass ein so junger Mensch wie du bereits die Gabe der Prophezeiung entwickelt hat. Das bringt mich auf den Gedanken, dass dein Traum ein nafsani sein muss. Du träumst, weil du dir etwas wünschst.« Sie brummt das letzte Wort, und hustet leise, bevor sie fortfährt. »Du wünschst dir, es zu ändern. Du möchtest zurückgehen und es ungeschehen machen. Warum?«

Die Antwort Weil ich dann noch meine Finger hätte liegt mir bereits auf der Zunge. Doch ich schlucke sie wieder hinunter. Ich weiß, was sie meint. Und dass es nicht nur um meine Finger geht.

Tayta beugt sich vor und nimmt meine Hand. »Wenn du diese Bombe nicht durch den Kern getragen hättest, mein Kind, wenn du sie nicht diesen fi dahya Anarchisten abgenommen und durch die Luftschleuse hinausgeworfen hättest, wäre ich jetzt nicht hier. Keiner von uns wäre hier.«

Ihre Worte bringen alles wieder zurück. Die Aufstände in den unteren Sektoren. Der Tod meines Teamleiters. Die Bombe, die ich fand, mit genügend Explosionskraft, um ein riesiges Loch in die Station zu reißen. Ich konnte nicht zu irgendeiner Luftschleuse in den angrenzenden Sektoren gehen, weil die Anarchisten alles abgesperrt hatten. Also nahm ich sie mit durch die gefrorene Hölle des Kerns, durch die Speiche, die von einer Seite des Rings direkt zur anderen führt. Ich hatte sie die ganze Zeit bei mir, auf dem Weg durch den Fusionsreaktor im Zentrum, bis zur anderen Seite. Ich hielt sie fest, während die Kälte mir meine Finger raubte.

Im Traum komme ich halb durch den Kern und halte dann an. Ich weiß, was geschehen wird. Ich weiß, dass die Bombe hochgehen wird. Und ich kann mich nicht mehr von der Stelle rühren. Manchmal wache ich in diesem Moment auf, aber häufiger, wie heute Nacht, wache ich erst auf, als die Bombe detoniert, als die Welt weiß wird.

Taytas Worte beruhigen mich nicht. Ich hebe eine Hand, lasse das Licht auf die Stümpfe meiner fehlenden Finger fallen. Vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber sie scheinen zu leuchten, sie glühen in einer matten Hitze, die die Farbe meines Schals hat.

»Siehst du sie?«, frage ich. »Es kommt mir immer wieder so vor, als wären sie noch da. Als wären die letzten zehn Jahre nie passiert und als würde ich mit meinem alten Team aufwachen und alles wäre wieder genauso, wie es war.«

»Amira …«

»Es hat nicht den geringsten Unterschied gemacht. Was ich getan habe. Die Leute bringen sich immer noch gegenseitig um. Sie vergewaltigen, lügen und morden wie immer. Meine Tänzer müssen immer noch mühsam ihren Lebensunterhalt verdienen und sich zwischen den Ebenen verstecken.«

»Du kannst die menschliche Natur nicht ändern«, sagt Tayta und greift erneut nach meiner Hand. Diesmal nimmt sie die schlechte und hält sie fest. »So leben wir jetzt, und unsere einzige Aufgabe besteht darin, zu überleben, bis wir nach Hause zurückkehren können. Die Welt ist dunkel, aber das bedeutet nicht, dass wir es auch sein müssen.«

Ich ziehe meine Hand zurück. »Vielleicht sollten wir es nicht versuchen«, murmele ich. »Vielleicht sollten wir es sein lassen und neu anfangen.«

Tayta schlägt mich. Mit der offenen Hand, genau auf die Wange.

Ihre Augen funkeln vor Wut. Jahrzehnte fallen von ihr ab. Ich lege meine Hand an die Wange, spüre, wie die Haut immer stärker pulsiert.

Tayta starrt mir in die Augen. »Was du durchgemacht hast, war schrecklich. Aber als du es getan hast, wolltest du die Station retten, und wenn du dich darüber ärgerst, dass du es getan hast, ist das Verrat, mein Kind, hast du mich verstanden? Verrat. Wenn du das glaubst, ist dein Traum kein nafsani. Dann ist er nicht mehr als ein shaytani

Im Zimmer ist es still, abgesehen von den langsamen Geräuschen, mit denen sich die Station im Schlaf herumdreht.

Ich ziehe die Hand von meiner Wange zurück, und Tayta legt ihre darauf. In ihren Augen ist immer noch Wut, aber nun ist auch Sorge hinzugekommen.

»Bitte sag mir, dass du versuchen willst zu vergessen, was geschehen ist«, sagt sie.

Ich weiß, dass ich das nicht kann. Aber ich nicke trotzdem. »Ich werde es versuchen.«

Sie lächelt. Wir sitzen eine Weile schweigend da und trinken Tee. Schließlich sagt sie: »Du kannst heute Nacht hier schlafen. Ich werde dir auf dem Boden einen Platz vorbereiten. Du musst mir verzeihen, dass ich dir nicht das Bett anbiete, aber meine Knochen sind älter als deine.«

»Nicht nötig, Tayta.«

»Nein. Ich lasse nicht zu, dass du in dieses stinkende Loch zurückrennst, das du dein Zuhause nennst. Nicht heute Nacht. Du wirst hier bei mir bleiben.«

Sie legt ein paar Decken auf den Boden, macht daraus ein anderes Nest. Ohne ein weiteres Wort dimmt sie das Licht im Habitat. Ich rolle mich in die Decken ein, ziehe sie bis zum Kinn hoch. Diesmal kehrt der Traum nicht zurück.

*

»Es ist mir egal, wer dir einen Brandpfeil in deinen Rucksack geschossen hat«, sagt Carver. »Ich mache dir keinen neuen. Das ist schon der zweite in diesem Jahr.«

Er steht hinter seiner Werkbank und zeigt auf ein schwarzes, verbranntes Ding. Yao Shen, eine von meinen Tänzern, starrt zu Carver hinauf, als würde sie sich vorstellen, sie wären von umgekehrter Körpergröße. Sie bemerken nicht, dass ich hereinkomme.

»Also ob du so viel zu tun hättest«, sagt Yao. »Du weißt schon, wenn du rausgehen und Jobs suchen würdest wie alle anderen von uns …«

»Komm mir nicht damit. Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, die Sachen, die ich bastle, machen euch das Leben leichter.«

»Dann bastel mir einen Rucksack, der sich nicht entzündet.«

»Klar. Und wenn ich schon mal dabei bin, könnte ich doch auch einen Teleporter bauen, der die Tracer völlig überflüssig macht. Wer benutzt heute noch Pfeil und Bogen?«

Ich lasse meinen Rucksack mit einem leisen Geräusch fallen, und Yao dreht sich um. »Amira, bitte sag ihm, dass er mir einen neuen Rucksack machen soll.«

»Sie ist nicht mein Boss«, sagt Carver.

»Doch, irgendwie schon.«

Ich lehne mich gegen die Wand. Obwohl ich so tue, als würde mich dieses Gezänk ärgern, gehört es genauso zum Nest wie die Matratzen und die Werkbank, wie das farbenfrohe Wandgemälde, das Yao allmählich an der Seite des Raums weiterentwickelt, an die ich mich lehne. Es fühlt sich gut an, zurück zu sein, und ich lächle, als ich daran denke, dass Tayta es als stinkendes Loch bezeichnet hat.

»Aaron, mach es einfach«, sage ich, aber ich bringe keinen ernsthaften Tonfall zustande. Ich sehe Yao an. »Bitte sag mir, dass du die Lieferung nicht verloren hast.«

Sie zuckt mit den Schultern. »Abgesehen von der Sache mit dem Brandpfeil lief alles bestens. Ich habe den Rucksack einfach abgenommen und bin draufgetreten.«

Ich starre sie an. »Du bist auf die Lieferung getreten?«

»Könntest du dich bitte entspannen? Was auch immer ausgeliefert werden sollte, befand sich in einem stabilen Behälter, dem das Feuer nichts anhaben konnte.«

Carver starrt unglücklich auf Yaos zerstörten Rucksack und murmelt leise vor sich hin. Ich nehme einen Schluck Wasser, der meiner ausgedörrten Kehle guttut. Es geht mir besser als seit Tagen, und meine Muskeln knistern vor Energie.

Ich will Yao gerade fragen, wo Kev ist – schließlich nennen wir sie nicht ohne Grund »die Zwillinge« –, doch dann höre ich ein Geräusch von der Tür und sehe, wie Riley hereinkommt. Wie immer trägt sie die alte Fliegerjacke ihres Vaters. Ihr dunkles Haar streift ihre Schultern, und sie hält ihren Rucksack in einer Hand. Anscheinend hat sie einen Job erledigt.

»Gut gelaufen?«, frage ich, doch dann sehe ich ihren Gesichtsausdruck – eine Mischung aus Sorge, Furcht und Wut.

»Was ist passiert?«, frage ich.

Doch tief in mir drinnen weiß ich es bereits.

*

Die Stoffe, die von der Decke hingen, wurden heruntergerissen. Sie liegen zerfetzt am Boden, mit Blutspritzern übersät. Die Kräuter, die auf der Werkbank standen, wurden über den Boden verstreut, grüne Flecken, die eine Miniaturkonstellation bilden. Die Pflanztöpfe wurden umgeworfen, die Erde hat sich über die Kante des Regals ergossen. Das Bett liegt auf der Seite und zeigt seine uralten verrosteten Innereien.

Riley steht ein Stück abseits. Sie weiß, dass sie mir jetzt nicht zu nahe kommen sollte.

»Ich war auf dem Rückweg, als ich davon hörte«, sagt sie mit seltsam trockener Stimme. »Ich war dabei, ein Paket in die oberste Ebene auszuliefern, und dann sagte jemand, dass es einen Überfall durch eine Gang gab. Ich wusste, dass sie in der Nähe wohnt, also ging ich hin, um nachzusehen, und dann …«

Sie verstummt. Nach einer Weile fügt sie hinzu: »Ich bin ihr nie begegnet.«

Sie hatte so wenig. Und sie haben ihr alles genommen. Ihr Hackmesser. Ihre Topfpflanzen – mitsamt Wurzeln herausgerissen. Selbst ihre Kleidung. Die Leiche wurde bereits fortgebracht, zu den vier anderen unten im Verbrennungsraum, bereit für die Kremation. Eine weitere alte Frau und eine komplette Familie – Mutter, Vater, junger Sohn. Insgesamt drei Habitate wurden geplündert, bis die Gang genug zusammen hatte oder es ihnen langweilig geworden war.

Ich erwarte, Trauer zu empfinden. Aber ich spüre nur Wut. Klare, kalte, berechnende Wut.

»Was werden wir tun?«, fragt Riley.

»Wir werden gar nichts tun«, sage ich. Meine Hände sind zu Fäusten geballt, und als ich mich zwinge, sie zu öffnen, und darauf blicke, sehe ich die tiefen Spuren, die meine Fingernägel hinterlassen haben. »Du kehrst zum Nest zurück. Du sorgst dafür, dass wir genügend Jobs haben und dass unser Vorratslager gut gefüllt ist. Du übernimmst das Kommando.«

»Ich gehe nirgendwohin.«

»Das ist ein Befehl.«

»Dann sollen sich die Stomper darum kümmern. Bitte. Wir können einfach weggehen.«

»Riley.«

Sie schließt den Mund, erwidert meinen Blick. Dann wendet sie sich ab und tritt durch die Tür hinaus. Ich höre, wie sie in Richtung Apogäum davonrennt, zum Nest. Ihre Schritte gehen im Summen der Station unter. Als ich überzeugt bin, dass sie fort ist, hebe ich den Kopf, atme langsam durch die Nase ein, schmecke die Luft. Ich muss mir ganz sicher sein. Absolut sicher. Es darf keinen Spielraum für Fehler geben, nicht bei dem, was ich vorhabe. Wenn ich es verpatze …

Ja. Es versteckt sich hinter dem Geruch der Kräuter und der Erde, aber es ist da.

Pilztee.

*

Anna Beck kommt um die Ecke gerannt und fällt auf die Nase.

Kein Wunder, wenn man nicht achtgibt und jemand einen Stolperdraht quer über den Korridor gespannt hat.

Eine weitere Erfindung von Carver, eine geflochtene Schnur, so dünn, dass sie fast unsichtbar ist, aber trotzdem sehr reißfest. Annas Rucksack fliegt von ihrer Schulter, hüpft über den Boden, platzt an der Seite mit dem Geräusch von zerreißendem altem Papier auf.

Einer Sekunde später bin ich auf ihr, ramme ihr mein Knie in den Rücken. Sie heult auf, verstummt jedoch, als ich ihr mit der Hand einen Schlag ins Genick verpasse.

»Sei still!«, sage ich.

»Amira? Was zum Teufel?«

Ein Stück weiter im Korridor versammelt sich eine Menge – Leute, die aus ihren Habitaten kommen, um nachzuschauen, was los ist. Als sie meinen Gesichtsausdruck sehen, ziehen sie sich wieder zurück.

»Jenner und seine Freunde«, sage ich und drücke fester mit den Fingerknöcheln zu. »Wo leben sie?«

»Was?«

Ich stoße härter zu, und sie schreit auf. Ihr Körper bäumt sich unter mir auf, versucht mich abzuwerfen, aber ich habe sie fest im Griff.

»Ich verstehe nicht«, keucht Anna. »Sie sind Kinder, Amira. Was haben sie getan?«

Meine Antwort besteht darin, ihren Kopf auf den Boden zu schlagen. Ihr Schmerzensschrei hallt von den Korridorwänden wider, verwandelt die Umgebung in eine Echokammer. »Ich habe nachgesehen, und ich kann sie nicht finden«, sage ich mit einer Stimme, die jetzt kaum mehr als ein Zischen ist. »Dich hingegen schon. Und du wirst mir jetzt sagen, wo sie sind.«

Durch zusammengebissene Zähne stößt sie hervor: »Neu-Deutschland. Sie wohnen alle auf Ebene drei.«

»Wo auf Ebene drei?«

»In verschiedenen Habitaten. Ich weiß es nicht genau. Jenner wohnt in dem, das der Kantine am nächsten ist …«

Ich bin auf den Beinen und renne, noch bevor sie zu Ende gesprochen hat. Hinter mir gehen Annas Worte in Flüche über, schicken mir das Versprechen eines blutigen Todes hinterher. Ich registriere es kaum.

*

Jenner ist der Erste.

Er kommt aus seinem dreckigen Quartier geschlendert, duckt sich unter einer Wäscheleine durch, die über der Tür hängt. Ich brauche meine gesamte Selbstbeherrschung, um nicht vom Stromverteilerkasten loszurennen, hinter dem ich mich verstecke, und ihm sofort die Kehle durchzuschneiden, aber ich schaffe es.

Er kann mich nicht sehen, obwohl er so nahe an meinem Versteck vorbeigeht, dass ich den Atem anhalten muss, damit er mich nicht hört. Als er sich weit genug durch den Korridor entfernt hat, komme ich hinter dem Kasten hervor und folge ihm.

Jenner läuft zur Galerie von Neu-Deutschland zurück. Ich bleibe gerade so weit hinter ihm, dass ich den Sichtkontakt nicht verliere. Es gibt Leute in diesem Sektor, die mich kennen, und ich könnte es gar nicht gebrauchen, wenn jemand mich begrüßt, während ich Jenners Verfolgung aufgenommen habe.

Als wir die Galerie erreichen, lasse ich ihn hineinlaufen, beobachte ihn aus dem Schatten des Korridors. Er nähert sich den Bänken, die eins der Blumenbeete umringen, die jetzt nur noch leere Kästen sind. Jemand muss die Erde weggeschafft haben, um sie für etwas anderes zu benutzen, als in den Beeten nichts mehr wuchs.

Jenner setzt sich auf eine Bank, die Hände tief in den Taschen seiner Kapuzenjacke vergraben. Ich muss nicht lange warten. Jemand kommt zu ihm, ein Junge mit einer eigenartigen Stachelfrisur. Ich kann nicht sagen, ob er an jenem Abend neben ihm am Feuer saß, aber die Art, wie er Jenner mit einem knappen Nicken begrüßt, lässt mich vermuten, dass er dabei gewesen sein könnte. Dann schlendern zwei weitere langsam von der anderen Seite heran. Eine Frau und ein Mann. Sie halten sich an den Händen, und zuerst bin ich überzeugt, dass sie nicht dazugehören, doch dann setzen sie sich zu Jenner und seinem Kumpel auf die Bank.

Ich greife in eine Tasche und lege die Finger um die Klinge. Nein. Zu früh. Zu öffentlich. Das Letze, was ich gebrauchen kann, sind Zeugen.

Es dauert eine Sekunde, bis ich bemerke, dass Jenners Gruppe aufgestanden ist. Sie gehen in meine Richtung. Ich ziehe mich tiefer in den Korridor zurück, suche nach einem Versteck. Nichts. Keine Verteilerkästen, keine Lüftungsschächte, in die ich schlüpfen könnte, nicht einmal Türen. So leise ich kann, laufe ich auf den Fußballen, entferne mich weiter durch den Korridor.

Das Treppenhaus. Perfekt. Ich gehe in die Hocke, gleite unter die erste Treppenflucht, den Rücken an die Wand gedrückt. Wenn Jenner und seine Gang um die Ecke kommen, werde ich bereit sein.

Ich ziehe die Klinge aus der Tasche. Sie ist kurz und scharf, der Griff besteht aus abgewetztem Plastik. Es ist nicht das schönste Messer, das ich je gesehen habe, aber es wird seinen Zweck erfüllen.

Schritte. Nicht aus dem Korridor, sondern auf der Treppe über mir. Wer auch immer es ist, sie treffen sich am unteren Ende der Treppe mit Jenner, und ich höre, wie sie sich leise unterhalten. Das Rumoren der Station ist hier unten lauter, und ich muss mich anstrengen, um sie zu verstehen.

»… ein paar Lebensmittel für euch gebunkert, wenn ihr später was davon haben wollt«, höre ich Jenner sagen. Sein Gesprächspartner lacht hell, und als die Frau antwortet, klingt ihre Stimme jung.

»Ich bin versorgt, aber ich komme später sowieso vorbei«, sagt sie.

Ich höre, wie sie sich verabschieden, dann geht Jenners Gruppe die Treppe hinauf. Ich schlüpfe nach draußen und folge ihnen, gerade noch in Sichtweite, bewege mich so leise, wie möglich.

Da ist immer noch dieser winzige Rest Zweifel. Soll ich sie töten, nur weil ich den Geruch des Tees wahrgenommen habe? Bin ich mir absolut sicher, dass Tayta nicht selbst welchen gebraut hat? Oder dass irgendwo ein Beutel mit getrockneten Pilzen herumlag?

Es spielt keine Rolle. Jenner hat es getan. Er und seine Freunde. Er ist wie alle anderen in dieser Station: dumm, gewalttätig, habgierig. Sie haben es nicht verdient, verschont zu werden. Ich kann nicht von Außenerde entkommen – niemand kann das –, aber ich kann sie für das bezahlen lassen, was sie getan haben.

Sie sind auf dem Treppenabsatz stehen geblieben, bilden einen lockeren Kreis. Sonst ist niemand in der Nähe. Ich schalte auf Automatik, mir wird nicht einmal bewusst, dass ich die Klinge hervorgezogen habe. Ich atme aus und stürme die Treppe hinauf, nehme drei Stufen auf einmal. Mein alter Teamleiter Paolo war es, der mich das Kämpfen gelehrt hat. Und der beste Rat, den er mir jemals gab, lautete: Beende es, bevor es begonnen hat. Bevor der, gegen den du kämpfst, überhaupt bemerkt, dass du da bist.

Jenner blickt sich gerade um, als ich mit der Klinge aushole, die Achillessehne an seinem linken Fuß durchtrenne.

Sein Schrei zerreißt die Luft, wird im engen Raum hin- und hergeworfen. Seine Freunde starren nur mit offenem Mund, und der nächste, den ich erreiche – der Junge mit der Stachelfrisur –, will gerade die Hände heben, als ich ihm die Kehle aufschlitze. Blut spritzt an die Wand. Jenner schreit immer noch.

Das Liebespaar ist als Nächstes dran. Sie versuchen sich tatsächlich zu wehren, die Frau zielt mit der Faust auf mich. Ich sehe es kommen, drehe den Kopf zur Seite, weiche dem Hieb aus und nutze meinen Schwung, um ihr die Klinge in die Brust zu rammen. Als ich sie herausziehe, klingt es, als würde jemand eine Melone zerschneiden. Die Frau stürzt rückwärts gegen ihren Partner, bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Dann erledige ich ihn auf die gleiche Weise. Das Messer dringt in sein Herz ein, und ich spüre, wie es ruckt, als die Klinge eine Rippe streift.

Ich stehe auf, bringe meine Atmung wieder unter Kontrolle. Auf meinem Hemd ist nur ganz wenig Blut – ich scheine dem meisten ausgewichen zu sein. Dann trete ich zurück, als die größer werdende Blutlache auf dem Boden meine Schuhe zu erreichen droht. Jenner schreit jetzt nicht mehr. Hinter mir höre ich nur noch seine keuchenden Atemzüge.

Ich gehe zu ihm und stelle einen Fuß auf seine Brust. Er versucht nach mir zu schlagen, aber ich drücke seine Hände weg, und er hört damit auf, als ich ihm die Klinge an die Kehle halte. Zum ersten Mal kann ich wirklich seine Augen sehen. Darin steht Schmerz. Und noch etwas anderes. Reue? Wut? Nicht dass es eine Rolle spielen würde.

»Bitte«, stößt er hervor. Er spuckt das Wort aus, nachdem seine Kehle vom Schreien rau geworden ist. »Bitte nicht!«

»Ich habe eine Nachricht für dich. Sie kommt von den fünf Leuten, die du in Chengshi ermordet hast.«

Er reißt die Augen auf. »Ich habe nicht …«

Seine Worte verwandeln sich in einen erstickten Schrei, als ich die Klinge in seiner Augenhöhle vergrabe. Ich stütze mich darauf, schiebe sie durch den Knochen in das weiche Gehirn dahinter.

Als sein Körper aufhört zu zucken, stehe ich auf und wische die Klinge an meinem Hemd ab. Beides wird in einen Brennofen wandern, und ich habe noch ein Ersatzhemd im Rucksack. Niemand hat mich gesehen, als ich ins Treppenhaus gegangen bin, dessen bin ich mir sicher. Vielleicht werden die Stomper mich mit den Toten in Verbindung bringen, aber es wird nur ein Indizienbeweis sein. Wie ich höre, ist ihre Spurensicherung in letzter Zeit nicht allzu fit. Außerdem wird sich sowieso niemand wegen vier toten Gangmitgliedern Gedanken machen. Was sind schon ein paar Leichen mehr auf Außenerde?

*

Ich bin in Taytas ehemaligem Habitat, als Riley mich findet.

Man hat es ausgeräumt. Ich weiß nicht, wer – die Stomper, ihre Nachbarn, die Sektorverwaltung. Egal. Es wäre unsinnig, ein Quartier leer stehen zu lassen, wenn es genug Verwendung dafür gibt. Ihre persönlichen Sachen – ein paar Tuchfetzen, ein kleines Glas mit Gewürzen, einige Kleidungsstücke – liegen auf dem nackten Pritschengestell.

Riley kommt vorsichtig näher, als könnte ich sie anspringen und beißen. Ich lächele matt, nicke zum Bett. Sie setzt sich neben mich. Einen Moment lang glaube ich, sie wird mir den Arm um die Schultern legen, aber sie tut es nicht. Sie hat die Finger im Schoß verknotet, ihre Hände verschwinden fast in den Ärmeln der Fliegerjacke.

»Was hast du getan?«, fragt sie nach einer Weile.

Ich höre ein Geräusch von der Tür und blicke auf. Carver steht dort mit den Zwillingen, der winzigen Yao und dem schwergewichtigen Kevin. Alle sehen mich an, zögernd, genauso wie Riley.

Meine Teufelstänzer. Ich habe sie aufgebaut, sie zusammengebracht, damit ich nicht dem Wahnsinn verfalle. Ich habe aus ihnen das schnellste Tracerteam in der ganzen verdammten Station gemacht. Ich bin ihnen eine Erklärung schuldig. Sie sollten erfahren, was geschehen ist.

Ich schließe die Augen.

»Nichts«, sage ich. »Ich habe noch keinen von ihnen gefunden.«

Riley rührt sich neben mir. Ich räuspere mich, blicke von ihr zu Carver. »Aber ich habe mit einem Kontaktmann bei den Stompern von Chengshi gesprochen«, fahre ich fort. »Er wird mich auf dem Laufenden halten. Sie können mehr tun als ich. Sie sollen die Arbeit machen, und wenn sie etwas finden …«

Ich spreche nicht weiter, starre auf den Boden. Ich warte darauf, dass sie mir widersprechen, mir vorwerfen, dass ich lüge.

Carver tritt in den Raum, die Hände tief in den Hosentaschen. Er blickt sich um und seufzt, als wäre er sich nicht ganz sicher, was er sagen soll. Dann kommt er zum Bett herüber, setzt sich neben mich. »Ich …«, sagt er, dann räuspert er sich und fängt noch einmal an. »Ich wette, sie war ein besonderer Mensch. Deine Oma, meine ich.«

Ich sage nichts. Ich reibe mir wieder die fehlenden Finger, ertaste das Narbengewebe.

Yaos Partner Kev ist so groß, dass er den Kopf einziehen muss, um durch die Tür zu passen. Er lehnt sich gegen die Wand, lächelt sanft. »Tut mir leid«, sagt er so leise, dass ich ihn kaum höre.

»Ich werde sie malen«, sagt Yao, als sie hereinkommt und sich im Schneidersitz auf den Boden hockt. »Auf dem Wandbild im Nest. Sie könnte ein Teil des Ganzen werden.« Dann senkt sie plötzlich den Blick. »Das heißt, wenn du es möchtest. Es muss nicht sein. Ich dachte mir nur, dass …«

»Ja«, sage ich. »Das würde mir gefallen.«

Yao lächelt. »Es wird fantastisch werden«, sagt sie und breitet die Hände aus. »Ich könnte sie richtig groß malen. Du kannst mir sagen, wie sie ausgesehen hat, und ich besorge etwas Farbe, und dann wird es fantastisch.«

»Ich helfe dir «, sagt Riley.

»Ich auch«, sagt Carver.

Yao schnauft. »Nichts für ungut, Ry, aber du malst saumäßig. Und für dich gilt das erst recht, Carver …«

Meine Gedanken schweifen ab, ihre Stimmen verklingen im Hintergrund. Sie lassen mich in Ruhe.

Ich denke über das nach, was ich gerade getan habe. Über die Lüge, die ich gerade erzählt habe.

Was mit Tayta geschehen ist, hat mich erkennen lassen, was ich als Nächstes tun muss. Weil sie nur zur Hälfte recht hatte. Mein Traum ist ein nafsani, ein starker persönlicher Wunsch, aber ich will es nicht ungeschehen machen. Ich will es noch einmal geschehen lassen.

Hätte ich damals zugelassen, dass diese Bombe hochgeht, dass Außenerde aus dem Universum gefegt wird, wäre all das nicht geschehen. Menschen wie Jackie Jenner hätten einfach aufgehört zu existieren. Tayta wäre der Schmerz erspart geblieben. Mir wäre meiner erspart geblieben.

Ich hätte den Teufelstänzern mühelos die Wahrheit sagen können. Aber ich will es nicht – noch nicht. Nachdem ich jetzt weiß, was der Traum wirklich bedeutet, muss ich entscheiden, was ich als Nächstes tun will.

Ich weiß nicht, wie ich meinen Traum Wirklichkeit werden lassen kann. Ich weiß nicht einmal, ob ich die Kraft habe, es durchzuziehen. Aber wenn ich weiß, wie, wenn die Zeit gekommen ist, werde ich schauen, ob sie bereit sind, mir zu helfen. Ob sie es genauso sehen wie ich. Warum sollte es anders sein? Jeder von ihnen hat Schlimmes durchgemacht. Jeder von ihnen hat Schmerz erfahren.

Ich will nicht darüber nachdenken, was ich tun werde, wenn sie mir nicht helfen wollen.

Ich sehe Taytas Gesicht vor mir. Sie sieht mich an, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen und Runzeln um die Augen. Sie würde nicht wollen, dass ich so denke. Sie würde wollen, dass ich für die Sicherheit meines Teams sorge, dass ich mein Leben lebe.

Ich schüttle den Kopf. Tayta ist tot. Sie kann mir nicht mehr helfen.

Rob Boffard: TracerIch spüre eine Hand auf meinem Bein. Riley. »Wir können gehen, sobald du bereit bist«, sagt sie. »Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.« Ich lege meine Hand auf ihre, drücke sie kurz.

Zum ersten Mal mache ich mir Sorgen, dass ich etwas Falsches getan haben könnte. Dass es schlimmer als alles andere ist, Riley diese Lüge erzählt zu haben. Doch dann blicke ich in ihre Augen, sehe, dass sie den gleichen Ausdruck wie die der anderen Teufelstänzer haben, und ich entspanne mich. Sie glauben mir.

Wie immer.

___

Rob Boffards Roman „Tracer“ ist im Shop erhältlich.

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.