3. August 2020

Turings Äpfel

Für die Sommerferien: Unsere exklusive Gratis-Kurzgeschichte von Stephen Baxter

Lesezeit: 37 min.

London, in der nahen Zukunft: Das Clarke-Institut hat auf der erdabgewandten Seite des Mondes ein gewaltiges Radioteleskop erbaut, das nach Signalen von fremden Welten suchen soll. Und tatsächlich finden sie nach einigen Jahren ein Signal, das aus dem Adlernebel stammt! Es ist schwach und hat Jahrzehntausende gebraucht, um die Erde zu erreichen, aber es ist eindeutig ein Funkspruch von einer fremden Zivilisation. Doch die Wissenschaftler, die es erforschen sollen, stehen vor einer noch viel gewaltigeren Entdeckung …

Stephen Baxter gilt als einer der herausragendsten Vertreter der Hard Science-Fiction, was er zuletzt mit seinem Roman Artefakt – Sternenpforte (im Shop) unter Beweis gestellt hat. „Turings Äpfel“, unsere Sommer-Story, stammt aus dem Erzählband Obelisk (im Shop). Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre – und einen schönen Sommer!

 

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Turings Äpfel

 

Auf der erdabgewandten Seite des Mondes, fast genau im Zentrum, liegt ein hübscher runder, scharf umrissener Krater namens Daedalus. Bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wusste kein Mensch etwas von seiner Existenz. Es ist so ziemlich das stillste und am weitesten von der Erde entfernte Gebiet auf dem Mond.

Deshalb gingen die Astronautenteams aus Europa, Amerika, Russland und China dorthin. Sie ebneten den Kraterboden auf einer Fläche mit einem Durchmesser von neunzig Kilometern ein, kleideten die natürliche Schüssel mit Metallgitterblechen aus und hängten Hornstrahler und Empfangssysteme an spinnenartige Gerüste. Und schon gab es dort ein Radioteleskop, bei Weitem das stärkste, das jemals gebaut wurde: ein Super-Arecibo, das seine Mutter in Puerto Rico in den Schatten stellte. Bevor die Astronauten wieder abflogen, tauften sie ihr Teleskop auf den Namen Clarke.

Jetzt ist das Teleskop eine Ruine, und der Boden von Daedalus ist zu großen Teilen mit Glas überzogen: Mondstaub, geschmolzen durch mehrere Nuklearschläge. Doch ich habe mir sagen lassen, wenn man aus einer langsamen Umlaufbahn hinabschauen würde, sähe man dort unten einen einzelnen Lichtpunkt, einen auf den Mond gefallenen Stern. Eines Tages wird der Mond verschwunden sein, aber dieser Punkt wird bleiben und lautlos um die Erde kreisen, eine Erinnerung an den Erdtrabanten. Und in der ferneren Zukunft, wenn auch die Erde nicht mehr da ist, wenn die Sterne ausgebrannt und die Galaxien vom Himmel geflohen sind, wird dieser Lichtpunkt noch immer leuchten.

Mein Bruder Wilson hat die Erde niemals verlassen. Er hat sogar England kaum je verlassen. Er – oder das, was von ihm übrig blieb – wurde in einem Grab neben dem unseres Vaters beigesetzt, ganz in der Nähe von Milton Keynes. Aber er hat diesen Lichtpunkt auf dem Mond erschaffen, der das letzte Vermächtnis der gesamten Menschheit sein wird.

So viel zum Thema Rivalität unter Geschwistern.

 

2027 n. Chr.

Bei der Beerdigung meines Vaters, noch bevor Wilson überhaupt mit seinen SETI-Suchen begonnen hatte, kam das Clarke zum ersten Mal zwischen uns zur Sprache.

Der Trauergottesdienst in einer alten Kirche am Stadtrand von Milton Keynes war gut besucht. Wilson und ich waren die einzigen Kinder meines Vaters, aber neben seinen alten Freunden waren auch zwei noch lebende Tanten sowie eine Schar von Vettern und Cousinen da, die meisten in unserem Alter, Mitte zwanzig bis Mitte dreißig, sodass es auch eine reiche Ausbeute an Kindern gab, wie kleine Blumen.

Ich weiß nicht, ob ich sagen würde, dass Milton Keynes ein guter Ort zum Leben ist. Es ist jedenfalls kein guter Ort zum Sterben. Die Stadt ist ein Monument der Planung, ein Betongitternetz aus breiten, von Bäumen gesäumten Straßen mit sehr englischen Namen wie Midsummer Boulevard, das jetzt von der neuen Einschienenbahn überlagert wird. Sie ist so clean, dass der Tod hier wie ein peinlicher gesellschaftlicher Fehltritt wirkt, wie ein Furz in einem Einkaufszentrum. Vielleicht müssen wir in einem von Gebeinen verschmutzten Boden begraben werden.

Unser Großvater hatte sich noch daran erinnert, dass es in dieser Gegend vor dem Zweiten Weltkrieg nur Dörfer und Ackerland gab. Er war auch nach dem Tod unserer Großmutter hiergeblieben, die zwanzig Jahre vor ihm gestorben war, und hatte miterlebt, wie all die Architektur ihn selbst samt seiner Erinnerungen allmählich aufs Abstellgleis schob.

Beim Gottesdienst sprach ich von diesen Erinnerungen, oder vielmehr von den Anekdoten meines Vaters über seinen Vater – ich erzählte zum Beispiel, dass ein strenges Mitglied der Home Guard Opa im Krieg dabei erwischt hatte, wie er sich auf das nicht weit entfernte Gelände von Bletchley Park schlich und Äpfel stibitzte, während sich Alan Turing und die anderen Genies im Innern des Hauses mit Nazi-Codes abplagten. »Als mein Bruder und ich auf die Uni gingen, sagte Großvater immer, er frage sich, ob er sich bei Turings Äpfeln nicht einen mathematischen Virus eingefangen habe«, schloss ich, »denn wie er zu sagen pflegte, kam Wilsons Gehirn garantiert nicht von ihm.«

»Dein Gehirn auch nicht«, meinte Wilson, als er mich später draußen vor der Kirche zu fassen bekam. Beim Gottesdienst hatte er nichts gesagt; das war nicht seine Art. »Du hättest das erwähnen sollen. Ich bin nicht der einzige Mathefreak in der Familie.«

Es war ein schwieriger Moment. Meine Frau und ich hatten gerade Bekanntschaft mit Hannah geschlossen, der zweijährigen Tochter einer Cousine. Hannah war stocktaub zur Welt gekommen, und wir Erwachsene in unseren schwarzen Anzügen und Kleidern ahmten unbeholfen die Gebärdensprache ihrer Eltern nach. Wilson marschierte einfach durch diese Gruppe hindurch, um zu mir zu gelangen, und würdigte das kleine Mädchen mit dem breiten Lächeln, das im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, kaum eines Blickes. Ich führte ihn weg, damit sich niemand gekränkt fühlte.

Er war damals dreißig, ein Jahr älter als ich, größer, dünner und nervöser. Andere fanden, wir seien uns ähnlicher, als ich glauben wollte. Zu meiner Erleichterung hatte er niemanden zur Beerdigung mitgebracht. Seine Partner konnten männlich oder weiblich sein, aber seine Beziehungen waren für gewöhnlich destruktiv; er brachte sie in die Familie wie noch nicht explodierte Bomben.

»Tut mir leid, wenn ich da was falsch dargestellt habe«, sagte ich ein wenig bissig.

»Dad und seine Erinnerungen, all diese Storys, die er ständig erzählt hat. Na ja, zumindest werde ich jetzt nie mehr etwas von Opa und Turings Äpfeln hören.«

Dieser Gedanke verletzte mich. »Wir werden die Geschichte in Erinnerung behalten. Vermutlich werde ich sie eines Tages Eddie und Sam erzählen.« Meinen eigenen kleinen Jungen.

»Sie werden dir nicht zuhören. Warum sollten sie? Dad wird verblassen. Jeder verblasst. Die Toten werden immer toter.« Vergessen Sie nicht, er sprach über seinen eigenen Vater, den wir gerade beerdigt hatten. »Hör mal, hast du mitgekriegt, dass das Clarke demnächst seinen Abnahmeprobelauf absolviert?« Dort auf dem Friedhof zog er tatsächlich ein Tablet aus der Innentasche seiner Jacke und rief technische Daten auf. »Du weißt natürlich, warum es so wichtig ist, dass es sich auf der Rückseite des Mondes befindet.« Zum millionsten Mal in meinem Leben unterzog er seinen kleinen Bruder einem unangekündigten Test, und er sah mich dabei an, als könnte ich nicht bis drei zählen.

»Funkschatten«, sagte ich. Für SETI, die Suche nach extraterrestrischer Intelligenz, der mein Bruder sein Berufsleben widmete, war es dringend erforderlich, von dem geräuschvollen Geschnatter der Erde abgeschirmt zu sein. SETI sucht nach schwachen Signalen ferner Zivilisationen, eine Aufgabe, die um Größenordnungen schwerer wird, wenn die sehr lauten Signale einer nahe gelegenen Zivilisation alles übertönen.

Wilson bedachte meine Vermutung tatsächlich mit sarkastischem Applaus. Er rief mir oft ins Gedächtnis, was mich an der akademischen Welt stets abgestoßen hatte[1]– die kaum unterdrückten Schikanen, die starke Rivalität. Eine Universität ist eine Schimpansenhorde. Deshalb war ich nie in Versuchung geraten, diesen Weg einzuschlagen. Vielleicht auch deshalb nicht, weil Wilson ihn vor mir eingeschlagen hatte.

Ich verspürte eine geringfügige Erleichterung, als die Leute den Friedhof verließen. Im Haus meines Vaters würde es einen Empfang geben.

»Na, kommst du mit? Kuchen essen und Sherry trinken?«

Er warf einen Blick auf die Zeitangabe in seinem Tablet. »Ich bin verabredet.«

»Mit einem Er oder einer Sie?«

Er antwortete nicht. Einen kurzen Moment lang sah er mich aufrichtig an. »Bei diesen Sachen bist du besser als ich.«

»Bei was für Sachen? Sich wie ein Mensch zu benehmen?«

»Hör zu, das Clarke sollte in einem Monat den Betrieb aufgenommen haben. Komm nach London; wir können uns die ersten Ergebnisse ansehen.«

»Täte ich gern.«

Ich log, und seine Einladung war wahrscheinlich auch nicht ernst gemeint. Letztendlich dauerte es mehr als zwei Jahre, bis ich ihn wiedersah.

Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon das Adler-Signal entdeckt, und alles hatte sich verändert.

 

2029 n. Chr.

Wilson und sein Team stellten rasch fest, dass ihr nur Monate nach dem Start von Clarke zum ersten Mal empfangenes kurzes Signal von einer Quelle stammte, die sechstausendfünfhundert Lichtjahre von der Erde entfernt war und sich irgendwo hinter dem Eagle Nebula befand, dem Adlernebel, einer Wolke, in der Sterne geboren werden. Das ist ganz schön weit weg, auf der anderen Seite des nächstinneren Spiralarms der Galaxis, des Sagittarius-Arms.

Und es ist eine Untertreibung, wenn man das Signal als »kurz« bezeichnet. Es war ein schwacher, zischender Impuls von einer Sekunde Dauer, und es wiederholte sich nur ungefähr einmal pro Jahr. Es war ein Zeugnis für roboterhafte Geduld, dass das große lunare Ohr das verdammte Ding überhaupt aufgefangen hatte.

Trotzdem war es ein echtes Signal von Außerirdischen, die Wissenschaftler vollführten Freudensprünge, und eine Zeit lang erregte es in der Öffentlichkeit ungeheures Aufsehen. Aber das Signal war nur ein kurzes Rauschen aus großer Entfernung. Als nichts weiter darauf folgte, als sich kein Mutterschiff am Himmel materialisierte, verlagerte sich das Interesse auf andere Dinge. Die ganze Sache erwies sich als klassische Eintagsfliege.

Wilson lud mich zu sich ein, als das Signal gerade wieder aus den Schlagzeilen verschwand. Deshalb war ich wohl ein wenig verstimmt, als ich an jenem Morgen in die Stadt fuhr, um ihn zu besuchen.

Die Bodenstation des Clarke-Instituts befand sich in einem der riesigen Prachtbauten aus Glas, die man in den verschwenderischen Tagen des Boomkapitalismus der frühen Nullerjahre am Ufer der Themse hochgezogen hatte. Jetzt kostete Büroraum nur noch so wenig, dass ihn sogar Wissenschaftler mieten konnten, aber die Londoner Innenstadt war eine Festung mit Pflichtkriechspuren, damit die Überwachungskameras die Gesichter einfangen konnten. Ich war selber in der Terrorbekämpfungsbranche und sah die Notwendigkeit ein, als ich mich an St. Paul’s vorbeischob, deren Kuppel im Jahr 2025 von der Bombe der Carbon Cowboys wie ein Ei zertrümmert worden war. Die langsame Fahrt ließ mir jede Menge Zeit, darüber nachzudenken, vor wie vielen wichtigeren Leuten Wilson den großen Larry gespielt hatte, bevor er zu seinem Bruder gekommen war. Was das betraf, war Wilson noch nie loyal gewesen.

Er bat mich, Platz zu nehmen, und bot mir eine Dose warme Cola an. Sein Büro hätte zu jeder x-beliebigen Datenverarbeitungseinrichtung gehören können, bis auf die an die Decke gemalte All-Sky-Projektion der kosmischen Hintergrundstrahlung. Auf einem offenen Laptop lief immer wieder eine akustische Umsetzung des Signals. Es klang wie Wellen, die an einen Strand plätscherten. Wilson sah aus, als hätte er sich seit drei Tagen nicht mehr rasiert, seit fünf nicht mehr geschlafen und seit zehn sein Hemd nicht mehr gewechselt. Er lauschte verzückt.

Selbst Wilson und sein Team hatten ein Jahr lang nichts von der Entdeckung des Signals gemerkt. Das Clarke lief autonom; seine Erbauer hatten längst ihre Sachen gepackt und waren wieder nach Hause gekommen. Ein Jahr zuvor hatten die Signalprozessoren des Teleskops den Impuls erfasst, ein Mikrowellengewisper. Es war strukturiert, und es gab Anzeichen dafür, dass der Strahl kollimiert war – das Signal wirkte künstlich. Aber es verklang schon nach einer Sekunde.

Die meisten früheren SETI-Forscher hatten nach starken, länger anhaltenden Signalen gehorcht und hätten an diesem Punkt aufgegeben. Aber wenn es nun eine Art Leuchtturm gab, der einen Mikrowellenstrahl wie ein Scheinwerferlicht durch die Galaxis schweifen ließ? Mit dieser Methode, so hatte Wilson mir erklärt, könnte eine sendende Zivilisation ihr Signal weitaus kostengünstiger zu weitaus mehr Sternen schicken. Aufgrund dieses wirtschaftlichen Arguments war das Clarke so konstruiert worden, dass es sich geduldig seiner Aufgabe widmete. Es hatte ein ganzes Jahr gewartet. Es hatte sich sogar an andere Einrichtungen gewandt und sie gebeten, ein elektronisches Auge offen zu halten, falls das in seinem Krater festsitzende Clarke zufällig gerade in die andere Richtung blickte, wenn oder falls das Signal erneut eintraf. Am Ende hatte es Glück; es entdeckte den wiederholten Impuls selbst und benachrichtigte seine menschlichen Herren.

»Wir sind die heißen Favoriten für den Nobelpreis«, konstatierte Wilson nüchtern.

Mir war danach, ihn ein bisschen zu ärgern. »Wahrscheinlich haben die da draußen dein Signal alle schon wieder vergessen.« Ich machte eine Handbewegung zu den riesigen Glasfenstern; von dem eigentlich für die Geldsäcke von Hedgefonds-Managern gedachten Büro aus hatte man einen groß artigen Blick auf den Fluss, die Houses of Parliament und das London Eye. »Okay, es ist ein Existenzbeweis, aber das war’s dann auch schon.«

Er runzelte die Stirn. »Nein, das stimmt nicht. Wir suchen in dem Signal nach weiteren Daten. Es ist sehr schwach, und es gibt eine Menge Szintillation durch das interstellare Medium. Wir werden wahrscheinlich noch ein paar Durchgänge abwarten müssen, um eine bessere Auflösung zu bekommen.«

»Noch ein paar Durchgänge? Noch ein paar Jahre!«

»Aber es gibt auch so schon vieles, was sich aus dem Signal ableiten lässt.« Er rief in seinem Laptop Diagramme auf. »Zunächst einmal können wir daraus schließen, über welche technischen Fähigkeiten und wie viel Energie die Eaglets verfügen« – die »Adlerjungen«, so nannte man die Wesen, von denen das Signal stammte –, »vorausgesetzt, es trifft zu, dass sie ein möglichst kostengünstiges Verfahren gewählt haben. Diese Analyse geht auf ein altes Modell zurück, die sogenannten Benford-Beacons.« Er zeigte auf den untersten Punkt einer Kurve. »Schau – wir schätzen, dass sie ein paar Hundert Megawatt durch eine Anlage mit einem Durchmesser von mehreren Kilometern pumpen; wahrscheinlich lässt sie sich mit derjenigen vergleichen, die für uns auf dem Mond ins All lauscht. Sie sendet ihre Impulse auf der galaktischen Ebene aus, wo die meisten Sterne liegen. Wir können noch weitere Vermutungen anstellen.« Er lehnte sich zurück und trank einen Schluck von seiner Cola, wobei ein paar Tropfen herabfielen und die Fleckensammlung auf seinem Hemd ergänzten. »Die Suche nach außerirdischer Intelligenz war immer von philosophischen Prinzipien und von Logik geleitet. Jetzt, wo wir diesen einen Datenpunkt haben, die sechstausend Lichtjahre entfernten Eaglets, können wir diese Prinzipien einer Prüfung unterziehen.«

»Und welche wären das?«

»Das Prinzip der Fülle. Weil auf unserer Erde Leben und Intelligenz entstanden sind, haben wir geglaubt, sie müssten überall entstehen, wo sich die Möglichkeit dazu bietet. Das wäre also eine Bestätigung der Gültigkeit dieses Prinzips. Dann das Prinzip der Mittelmäßigkeit.«

Ich wusste noch genug aus meinem Studium, um es mir ins Gedächtnis zu rufen. »Wir befinden uns nicht an einem besonderen Ort im Raum und in der Zeit.«

»Richtig. Wie sich herausstellt, wird es sich angesichts dieses Datenpunkts wohl nicht allzu gut halten.«

»Warum sagst du das?«

»Weil wir diese Burschen in Richtung des galaktischen Zentrums gefunden haben …«

Als die Galaxis noch jung gewesen war, hatten die meisten Sternbildungsprozesse in ihrem Kern stattgefunden. Später schwappte dann eine Welle von Sternengeburten durch die Scheibe nach draußen; dabei entstanden die für das Leben erforderlichen schweren Elemente in den Herzen toter Sterne und wurden von einem Wind der Supernovae fortgeweht. Die Sterne, die von uns aus gesehen in Richtung des galaktischen Zentrums liegen, sind also älter als die Sonne und beherbergen deshalb wahrscheinlich auch schon viel länger Leben.

»Wir würden erwarten, dort eine Konzentration alter Zivilisationen zu finden. Dieses eine Beispiel bestätigt das.« Herausfordernd blickte er mich an. »Wir können sogar Vermutungen darüber anstellen, wie viele technologische, sendende Zivilisationen es in der Galaxis gibt.«

»Anhand dieses einen Beispiels?« In dieser Art von Wettkampf zwischen uns war ich geübt. »Tja, mal sehen. Die Galaxis ist eine Scheibe mit einem Durchmesser von ungefähr hunderttausend Lichtjahren. Wenn alle Zivilisationen durchschnittlich sechstausend Lichtjahre voneinander entfernt sind – die Fläche der Galaxis, geteilt durch die Fläche einer Scheibe mit einem Durchmesser von sechstausend Lichtjahren – rund dreihundert?«

Er lächelte. »Sehr gut.«

»Also sind wir nicht typisch«, sagte ich. »Wir sind jung und draußen in den Vororten. All das aus einem einzigen Mikrowellenimpuls.«

»Natürlich sind die meisten normalen Menschen zu blöd, als dass sie etwas mit einer solchen Logik anfangen könnten. Deshalb machen sie ja auch keinen Krawall auf der Straße.« Er sagte das ganz beiläufig. Solche Töne haben mich immer zusammenzucken lassen, schon als wir noch Studienanfänger gewesen waren.

Aber er hatte nicht ganz unrecht. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass die meisten Leute vom Bauch her ohnehin schon geglaubt hatten, dass es Außerirdische gab; dies war also eine Bestätigung, kein Schock für sie. Vielleicht trug Hollywood die Schuld daran. Manchmal äußerte Wilson die Vermutung, dass wir auf der Suche nach unseren verlorenen prähistorischen Verwandten waren. Nach all diesen anderen hominiden Arten, diesen anderen Denkweisen, die wir der Reihe nach ausgerottet hatten, so wie wir im Laufe meines Lebens die Schimpansen in freier Wildbahn vernichtet hatten – empfindungsfähige Wesen, die Werkzeuge benutzten, erlegt als Buschfleisch. Wir haben uns auf einem dicht besiedelten Planeten entwickelt, und wir wissen, dass etwas fehlt, selbst wenn wir vergessen haben, was wir getan haben, und nicht verstehen, was los ist.

»Viele Menschen ergehen sich in Mutmaßungen darüber, ob die Eaglets eine Seele haben«, sagte ich. »Dem heiligen Thomas von Aquin zufolge …«

Er tat Thomas von Aquin mit einer Handbewegung ab. »Weißt du, in gewisser Hinsicht waren unsere Gefühle in Bezug auf SETI explizit oder implizit immer religiös konnotiert. Wir haben im Himmel nach Gott oder einem technologischen Pendant gesucht. Nach jemandem, der sich um uns kümmern würde. Aber den finden wir nicht. Wir finden entweder Leere oder eine neue Kategorie von Wesen, zwischen uns und den Engeln. Die Eaglets haben nichts mit uns oder unseren Träumen von Gott zu tun. Das wollen die Menschen nicht begreifen. Aber letztendlich müssen sie damit fertigwerden.«

Er warf einen Blick zur Decke, und ich vermutete, dass er zum Adlernebel hinaufschaute. »Die Eaglets werden auch nicht viel Ähnlichkeit mit uns haben. Sie leben an einem höllischen Ort. Da ist es ganz anders als hier. Der Sagittarius-Arm schlingt sich einmal um den Kern der Galaxis und ist voller Staub und Wolken und junger Sterne. Der Adlernebel ist ja selbst eine stellare Kinderstube, erhellt von Sternen, die nur ein paar Millionen Jahre alt sind. Muss ein grandioser Himmel sein, wie eine langsame Explosion – anders als unser Himmel aus ordentlich kreisenden Lichtpunkten, wie im Innern eines Computers. Kein Wunder, dass die Entwicklung unserer eigenen Wissenschaften mit Astrologie und Astronomie begonnen hat. Was meinst du, inwiefern sich ihre Denkweise von unserer unterscheidet?«

Ich stieß einen Brummlaut aus. »Das werden wir nie erfahren. Zumindest nicht in den nächsten zwölftausend Jahren, falls wir eine Frage losschicken und auf die Antwort warten müssen.«

»Kann sein. Kommt darauf an, was für Daten wir in dem Signal finden. Willst du noch ’ne Coke?«

Aber ich hatte noch nicht einmal die erste geöffnet.

So verlief dieser Tag. Wir sprachen über nichts anderes als das Signal, nicht darüber, wie es ihm ging, mit wem er ging, nicht über meine Familie, meine Frau und die Jungs – wir alle lernten übrigens gerade Gebärdensprache, um mit der kleinen Hannah reden zu können. Das Adler-Signal war nichtmenschlich, abstrakt. Man konnte es weder sehen noch anfassen; ohne aufwendige Signalverarbeitung konnte man es nicht einmal hören. Aber er hatte nichts anderes im Kopf. Das war Wilson, wie er leibte und lebte.

Im Rückblick war dies die glücklichste Zeit seines Lebens. Gott steh ihm bei.

 

2033 n. Chr.

»Ich soll dir helfen, stimmt’s?«

Wilson stand vor meiner Tür. Er trug ein Jackett und eine chaotische Krawatte, von Kopf bis Fuß der Akademiker. Er wirkte unsicher. »Woher weißt du das?«

»Weshalb solltest du sonst herkommen? Du besuchst uns nie.« Das entsprach der Wahrheit. Er schickte auch kaum jemals eine Mail und rief so gut wie nie an. Ich glaube nicht, dass meine Frau und die Kinder ihn seit der Beerdigung unseres Vaters vor sechs Jahren zu Gesicht bekommen hatten.

Er dachte darüber nach, dann grinste er. »Eine begründete Schlussfolgerung auf der Basis vorhergehender Beobachtungen. Kann ich reinkommen?«

Auf dem Weg zu meinem häuslichen Arbeitszimmer durchquerte ich mit ihm das Wohnzimmer. Die Jungs, damals zwölf und dreizehn, spielten ein holografisches Boxspiel, bei dem zwei flackernde, rund dreißig Zentimeter große Profiboxer mitten auf dem Teppich die Bewegungen der Kinder nachahmten. Ich machte sie mit Wilson bekannt. Sie erinnerten sich kaum an ihn, und ich war nicht sicher, ob er sich an sie erinnerte. Die Jungs gaben einander Zeichen: Was für ein Loser, grob übersetzt.

Rasch ging ich mit ihm weiter, aber Wilson hatte die Zeichen bemerkt. »Was machen sie da? Irgendein geheimes Spiel?«

Es überraschte mich nicht, dass er das nicht wusste. »Das ist Gebärdensprache. Wir haben sie alle jahrelang gelernt – eigentlich schon seit Dads Beerdigung, als wir Barry und seine Frau getroffen und festgestellt haben, dass sie ein taubes kleines Mädchen haben. Hannah, erinnerst du dich? Sie ist jetzt acht. Wir haben alle gelernt, mit ihr zu reden. Den Kids macht es Spaß, glaube ich. Weißt du, es hat schon etwas Ironisches, dass du an einem Milliarden Pfund schweren Projekt mitarbeitest, bei dem es darum geht, mit sechstausend Lichtjahre entfernten Aliens zu sprechen, und es dich trotzdem nicht stört, dass du mit einem kleinen Mädchen aus deiner eigenen Familie nicht reden kannst.«

Er sah mich verständnislos an. Ich gab Worte von mir, die ihm offensichtlich nichts sagten, weder intellektuell noch emotional. So war Wilson.

Er fing einfach an, von der Arbeit zu sprechen. »Wir haben jetzt das Datenmaterial von sechs Jahren[1]– sechs Impulse, jeder eine Sekunde lang. Da stecken eine Menge Informationen drin. Sie benutzen eine Technik wie unser Wellenlängen-Multiplex, wobei das Signal in Abschnitte von jeweils etwa einem Kilohertz unterteilt wird. Wir haben Gigabytes extrahiert …«

Ich gab auf. Ich ging in die Küche, kochte eine Kanne Kaffee und nahm sie mit ins Arbeitszimmer. Als ich zurückkam, stand er immer noch da, wo ich ihn stehen gelassen hatte, wie ein abgeschalteter Roboter. Er nahm eine Tasse Kaffee und setzte sich.

»Gigabytes?«, soufflierte ich.

»Gigabytes. Zum Vergleich: Die gesamte Encyclopaedia Britannica umfasst nur ein Gigabyte. Das Problem ist, wir werden nicht schlau daraus.«

»Woher wisst ihr, dass es nicht bloß Rauschen ist?«

»Wir haben Methoden, um das zu überprüfen. Informationstheorie. Übrigens auf der Grundlage von Experimenten, bei denen es um Kommunikation mit Delfinen geht.« Er holte ein Tablet aus seiner Tasche und zeigte mir einige Ergebnisse.

Das erste war ziemlich simpel, eine sogenannte »Zipf-Kurve«. Man löst seine Botschaft in reale oder scheinbare Komponenten auf und geht davon aus, dass sie vielleicht Wörtern, Buchstaben oder Phonemen der eigenen Sprache entsprechen. Dann zählt man, wie häufig sie vorkommen: wie viele A, wie viele E, wie viele R. Bei weißem Rauschen stünde zu erwarten, dass die Anzahl der Buchstaben ungefähr gleich ist, sodass man eine flache Verteilung hat. Bei einem sauberen Signal ohne Informationsgehalt, einer Kette identischer Buchstaben, A, A, A, bekäme man eine Linie mit einer Spitze. Bei sinnvoller Information ergäbe sich eine abfallende Kurve irgendwo zwischen diesen horizontalen und vertikalen Extremen.

»Und wir kriegen eine prächtige Potenzfunktion mit dem Exponenten minus eins auf einer logarithmischen Skala«, sagte er und zeigte es mir. »Es stecken also durchaus Informationen drin. Aber es gibt eine Menge Kontroversen, was die Identifizierung der eigentlichen Elemente betrifft. Die Eaglets haben uns keinen ordentlichen Binärcode geschickt. Die Daten sind frequenzmoduliert, ihre Sprache ist voller Wachstum und Zerfall. Eher wie ein Film von einem Garten, in dem sich die Pflanzen im Zeitraffer entwickeln, als wie ein menschliches Narrativ. Ich frage mich, ob das etwas mit ihrem jungen Himmel zu tun hat. Jedenfalls haben wir’s nach der Zipf mit einer Shannon-Entropie-Analyse probiert.«

Dabei geht es um die Suche nach Beziehungen zwischen den Signalelementen. Man ermittelt bedingte Wahrscheinlichkeiten: Wenn man Elementpaare vor sich hat, wie wahrscheinlich ist es dann, dass man ein Q mit einem nachfolgenden U sieht? Dann geht man – im Fachjargon – zu »Entropie-Ebenen« höherer Ordnung über, angefangen mit Dreiergruppen: Wie wahrscheinlich ist es, dass nach einem I und einem N ein G kommt?

»Zum Vergleich: Delfinsprachen gehen bis zu einer Entropie dritter oder vierter Ordnung. Wir Menschen kommen bis zur achten oder neunten.«

»Und die Eaglets?«

»Deren Entropie-Ebene ist mit unseren Beurteilungsprozeduren nicht mehr zu erfassen. Wir denken, dass sie ungefähr auf Höhe der dreißigsten Ordnung liegt.« Er musterte mich, um zu sehen, ob ich verstand. »Es ist Information, aber viel komplexer als jede menschliche Sprache. Vielleicht wie Sätze mit einer ungeheuer verschlungenen Struktur[1]– Dreifach- oder Vierfachverneinungen, einander überlagernde Satzglieder, Tempuswechsel.« Er grinste. »Oder Mehrdeutigkeiten.«

»Sie sind intelligenter als wir.«

»O ja. Und das ist der Beweis dafür, falls wir ihn noch gebraucht haben, dass die Botschaft nicht speziell für uns gedacht ist.«

Ich verstand. »Sonst hätten sie sie vereinfacht. Was meinst du, wie intelligent sie sind? Intelligenter als wir, klar, aber …«

»Gibt es da Grenzen? Na ja, vielleicht. Man könnte sich vorstellen, dass eine ältere Kultur sich auf einem bestimmten Niveau stabilisiert, nachdem sie die grundlegenden Wahrheiten des Universums herausgefunden und eine optimal auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Technologie entwickelt hat … Nichts spricht dafür, dass der Fortschritt ewig weiter vorwärts und aufwärts verlaufen muss. Andererseits sind der Informationsverarbeitung vielleicht grundsätzliche Grenzen gesetzt. Ein allzu komplex werdendes Gehirn könnte zu Abstürzen und Überlastungen neigen. Möglicherweise gibt es einen Kompromiss zwischen Komplexität und Stabilität.«

Ich schenkte ihm noch etwas Kaffee ein. »Soll ich jetzt demoralisiert sein? Vergiss nicht, ich habe in Cambridge studiert. Ich bin’s gewohnt, von Wesen umgeben zu sein, die intelligenter sind als ich.«

Er grinste. »Das liegt ganz bei dir. Aber für uns sind die Eaglets Wesen einer neuen Kategorie. Nicht wie beim Zusammentreffen der Inkas mit den Spaniern, wo es bloß eine technologische Kluft gab. Die hatten immerhin miteinander gemein, dass es sich auf beiden Seiten um Menschen handelte. Vielleicht werden wir feststellen, dass die Kluft zwischen uns und den Eaglets für alle Zeiten unüberbrückbar ist. Weißt du noch, wie Dad uns immer aus Gullivers Reisen vorgelesen hat?«

Bei der Erinnerung daran musste ich lächeln. »Diese sprechenden Pferde haben mir eine Heidenangst eingejagt.«

»Ja, die waren wirklich intelligenter als wir. Und wie hat Gulliver auf sie reagiert? Er war total überwältigt von ihnen. Er hat sie nachzuahmen versucht, und selbst als sie ihn rauswarfen, hat er die Angehörigen seiner eigenen Gattung immer verabscheut, weil sie nicht so gut waren wie die Pferde.«

»Mister Eds Rache«, sagte ich.

Er sah mich nur verständnislos an. »Vielleicht wird das der Weg für uns sein – wir werden die Eaglets nachäffen oder ihnen die Stirn bieten. Vielleicht ist schon das reine Wissen, dass es eine Gattung von Wesen gibt, die klüger sind als man selbst, gleichbedeutend mit dem Tod.«

»Wird das alles publik gemacht?«

»O ja. Wir sind der NASA angegliedert, und die sieht sich ausdrücklich der Transparenz verpflichtet. Außerdem ist das Institut so undicht wie ein Schweizer Käse. Es hat keinen Sinn, auch nur zu versuchen, die Sache geheim zu halten. Aber wir veröffentlichen die Neuigkeiten schrittweise und in nüchternem Ton. Niemand kriegt viel davon mit. Du doch auch nicht, oder?«

»Und was meint ihr nun, worum es sich bei dem Signal handelt? Um eine Art Superenzyklopädie?«

Er schnaubte. »Vielleicht. Das ist die kühne Hoffnung der Kontaktoptimisten. Aber als die europäischen Kolonisten an fremden Ufern aufgetaucht sind, bestand ihr erster Impuls nicht darin, den Leuten Enzyklopädien oder Lehrbücher in die Hand zu drücken, sondern …«

»Bibeln.«

»Ja. Es könnte auch etwas weniger Unruhestiftendes sein. Ein gewaltiges Kunstwerk zum Beispiel. Aber warum sollten sie so etwas senden? Vielleicht ist es ein Scheiterhaufen. Oder das Grabmal eines Pharaos. Schaut, was ich erbaut habe.«

»Und was willst du nun von mir?«

Er sah mich an. Mir war klar, dass er auf seine unbeholfene Weise herauszufinden versuchte, wie er mich dazu bringen konnte, das zu tun, was er wollte. »Na, was meinst du wohl? Demgegenüber ist die Übersetzung noch der obskursten menschlichen Sprache ein Klacks, und wir haben nichts, was einem Stein von Rosetta gleichkäme. Unsere Informationsverarbeitungsprogramme im Institut sind theoretisch sehr intelligent, Jack, aber sie haben ihre Grenzen. Sie laufen mit Prozessoren und Speicherelementen, die nicht viel effizienter sind als das hier.« Er wedelte mit seinem Tablet. »Dagegen sind die Software-Monster, mit denen ihr euer Data Mining betreibt, um eine Größenordnung stärker.«

Die von mir entwickelte und gepflegte Software durchsuchte die unablässigen, sintflutartigen Datenströme, die von jeder Person im Land einliefen, von ihren minütlichen Bewegungen mit privaten oder öffentlichen Transportmitteln bis zu den Pornoseiten, auf die sie zugriff, und den Methoden, mit denen sie dies vor ihrer Partnerin oder ihrem Partner verbarg. Wir verfolgten ihre Verhaltensmuster und die Abweichungen von diesen Mustern. Die Terroristen und andere Unruhestifter waren Nadeln in einem Heuhaufen, der aus den Millionen Strohhalmen von uns anderen bestand.

Diese permanente Datensichtung in Echtzeit beanspruchte ungeheure Speicher- und Verarbeitungskapazitäten. Ein paar Mal hatte ich die großen Computer des Innenministeriums in ihren gepanzerten Bunkern unter New Scotland Yard besucht: riesige, supraleitende Neuronalnetze, die in so kalten Räumen hingen, dass der Atem knisterte. Im privaten oder wissenschaftlichen Sektor gab es nichts dergleichen.

Und deshalb, so begriff ich, war Wilson heute zu mir gekommen.

»Du möchtest, dass ich euer extraterrestrisches Signal durch meine Data-Mining-Suiten schicke.« Er hatte mich sofort am Haken, aber ich war nicht gewillt, das zuzugeben. Mag schon sein, dass ich das akademische Leben verschmäht habe, aber die Neugier brannte in mir mindestens genauso stark wie nur jemals in Wilson. Ich musste mich jedoch noch symbolisch zur Wehr setzen. »Wie stellst du dir das vor? Wie soll ich die Genehmigung dafür bekommen?«

Er tat das mit einer Handbewegung als uninteressantes technisches Detail ab. »Wir suchen nach Mustern, die tief in den Daten eingebettet sind, unter mehreren Schichten, nach irgendeinem erkennbarem Ansatzpunkt, mit dessen Hilfe wir das Ganze entschlüsseln können … Offensichtlich muss Software, die dazu gedacht ist, nach Mustern darin zu suchen, wie ich meine Travelcards benutze, für die Suche nach nützlichen Korrelationen in den Eaglet-Daten entsprechend angepasst werden. Das wird eine beispiellose technische Herausforderung darstellen.

In gewisser Hinsicht ist das gut. Es wird wahrscheinlich Generationen dauern, dieses Zeug zu entschlüsseln, falls wir’s überhaupt jemals schaffen, so wie die Europäer der Renaissance Generationen gebraucht haben, um das Vermächtnis der Antike zu verstehen. Schon allein der Zeitfaktor ist eine Prophylaxe gegen den Kulturschock. Also, wirst du ein Auge für mich zudrücken, Jack? Komm schon, Mann. Denk daran, was Dad gesagt hat. Wir haben beide Turings Äpfel gegessen … Rätsel wie dieses zu lösen, das liegt uns im Blut.«

Er war nicht ganz ohne Falsch. Er wusste, wie er mich einwickeln konnte. Allerdings irrte er sich, was den Kulturschock betraf.

 

2036 n. Chr.

Zwei bewaffnete Cops begleiteten mich durch das Institutsgebäude. Der große Glaskasten war völlig leer, bis auf mich und die Polizisten und einen Spürhund. Der Morgen draußen war hell, ein kalter Frühlingstag, der Himmel von heiterem Blau, erhaben über Wilsons neuesten Wahnsinn.

Wilson saß im Büro des Clarke-Projekts, neben einem Bildschirm, über den Datenanzeigen flimmerten. Er hatte sich große Semtex-Platten um die Taille geschnallt und hielt eine Art Totmannschalter in der Hand. Mein Bruder, jetzt auch noch das Abziehbild eines Selbstmordattentäters. Die Cops blieben draußen, wo sie in Sicherheit waren.

»Wir sind hier geschützt.« Wilson schaute sich um. »Sie können uns sehen, aber nicht hören. Davon bin ich überzeugt. Meine Firewalls …« Als ich auf ihn zuging, hob er die Hände. »Kein Stück näher. Ich lasse sie hochgehen, das schwöre ich.«

»Herrgott noch mal, Wilson.« Aber ich blieb reglos stehen, hielt den Mund und zwang mich zur Ruhe.

Ich wusste, dass meine Jungs, die jetzt im Teenageralter waren, jede Bewegung auf den Nachrichtenkanälen, zu denen sie sich Zugang verschafft hatten, beobachten würden. Es mochte schon sein, dass uns niemand hören konnte, aber Hannah, jetzt eine hübsche Elfjährige, hatte jede Menge Freundinnen und Freunde, die das Lippenlesen beherrschten. Darauf würde Wilson niemals kommen. Es entschied darüber, wie ich diese Sache angehen würde. Falls ich hier und heute sterben musste, zusammen mit meinem Bruder, diesem Irren, sollten meine Jungs ihren Vater nicht als einen von Furcht gebrochenen Menschen in Erinnerung behalten.

Ich setzte mich. Auf der Bank stand ein Sechserpack warme Limonade. Ich glaube, ich werde warme Limo immer mit Wilson verbinden. Ich nahm mir eine Dose, riss die Lasche auf und trank einen Schluck; ich schmeckte nichts. »Willst du auch eine?«

»Nein«, sagte er in bitterem Ton. »Aber fühl dich ruhig wie zu Hause.«

»Was bist du bloß für ein verdammter Idiot, Wilson. Wie konnte es nur so weit kommen?«

»Du solltest es wissen. Du hast mir geholfen.«

»Und bei Gott, ich habe es seitdem jeden Tag bereut«, knurrte ich. »Deinetwegen bin ich rausgeflogen, du Schwachkopf. Und seit Frankreich hat jeder Spinner auf dem Planeten mich und meine Kinder im Visier. Wir bekommen Polizeischutz.«

»Gib nicht mir die Schuld. Du hast dich entschieden, mir zu helfen.«

Ich starrte ihn an. »Das nennt man Loyalität. Eine Eigenschaft, die dir vollständig abgeht und die du deshalb nur als Schwäche betrachtest, die man ausnutzen kann.«

»Wie auch immer. Was spielt das jetzt für eine Rolle? Hör mal, Jack, ich brauche deine Hilfe.«

»Das wird langsam zur Gewohnheit.«

Er warf einen Blick auf seinen Bildschirm. »Du musst mir Zeit verschaffen, damit ich die Chance habe, dieses Projekt zu beenden.«

»Was interessiert mich dein Projekt?«

»Es ist nicht mein Projekt. Das war es noch nie. So viel ist dir doch bestimmt klar. Es ist das Projekt der Eaglets …«

Alles hatte sich verändert in den drei Jahren, seit ich begonnen hatte, Wilsons Botschaft durch die großen Computer des Innenministeriums unterhalb von New Scotland Yard laufen zu lassen – ohne dass meine Chefs etwas davon mitbekamen; sie hätten es niemals riskiert, ihre kostbaren, unterkühlten Gehirne solchen Unwägbarkeiten auszusetzen. Nun, Wilson hatte recht gehabt. Schon bald hatte mein Data Mining sich wiederholende Segmente zutage gefördert, Blöcke organisierter Daten, die sich nur in Details unterschieden.

Wilson hatte intuitiv erkannt, dass es sich dabei um Bits von lauffähigem Code handelte: um Programme, die man ausführen konnte. Obwohl alles in der seltsamen, fließenden Sprache der Eaglets formuliert war, glaubte er, logische Schleifen, Start-und-Stopp-Anweisungen identifizieren zu können. Mathematik mag universell sein oder auch nicht, aber elektronische Datenverarbeitung scheint es zu sein – und mein Bruder hatte Turing-Maschinen gefunden, die tief im Innern einer außerirdischen Datenbasis steckten.

Wilson übersetzte die Segmente in eine menschliche mathematische Programmiersprache und ließ sie auf einem dedizierten Prozessor laufen. Wie sich herausstellte, ähnelten sie Viren. Einmal heruntergeladen, organisierten sie sich auf fast jedem Computersubstrat selbst, erkundeten ihre Umgebung, vermehrten sich, wuchsen rasch und griffen dabei auf die zusammen mit ihnen von den Sternen heruntergeladenen Datenbanken zu. Dann begannen sie, den Operatoren Fragen zu stellen, bei denen es schlicht um Ja oder Nein und richtig oder falsch ging – ein Austausch, der bald zur Entwicklung einer gemeinsamen Sprache führte.

»Die Eaglets haben uns keine Botschaft geschickt«, hatte Wilson mir einmal in den frühen Morgenstunden am Telefon zugeflüstert; auf dem Höhepunkt der ganzen Sache hatte er rund um die Uhr gearbeitet. »Sie haben eine KI heruntergeladen. Und jetzt lernt die KI, mit uns zu sprechen.«

Es war ein Weg zur Lösung einer ungemein schwierigen Kommunikationsaufgabe. Die Eaglets sandten ihre Botschaft in die gesamte Galaxis hinaus; sie wussten nichts über die Intelligenz, den kulturellen Entwicklungsstand oder auch nur die physische Gestalt ihres Publikums. Also schickten sie ein in den Informationsstrom selbst eingebettetes künstliches Allzweckgehirn, das lernfähig war und einen logischen Dialog mit den Empfängern aufnehmen konnte. Mit jeglichen Empfängern.

Vor allem das bewies mir, wie klug die Eaglets sein mussten. Es tröstete mich ganz und gar nicht, dass diese »Hoyle-Strategie« von menschlichen Denkern vorausgesehen worden war, wie einige Kommentatoren betonten; es ist eine Sache, etwas vorauszusehen, aber eine ganz andere, es zu realisieren. Ich fragte mich sogar, ob diese Viren es sich zur Aufgabe machten, ihre Botschaft für nur zu einer Shannon-Entropie neunter Ordnung fähige Geschöpfe wie uns zu vereinfachen.

Natürlich sickerte die Nachricht, dass die Signaltöne der Eaglets Information enthielten, nahezu auf der Stelle durch. Weil ich die Eaglets-Daten durch die Mining-Suiten des Innenministeriums geschickt hatte, wurde ich gefeuert und festgenommen – aber wegen der offenkundigen Vorrangstellung des Projekts auf Kaution entlassen, unter der Bedingung, dass ich die Arbeit an dem Eaglet-Material unter Aufsicht der Polizei und des Innenministeriums fortsetzte.

Da nur das Clarke-Teleskop imstande war, das Signal zu empfangen, konnten die Wissenschaftler am Clarke-Institut und das Konsortium der Regierungen, dem sie unterstanden, die Information selbst unter Kontrolle behalten. Bald sah es so aus, als würde diese Information außerordentlich wertvoll werden. Sogar die Programmierungs- und Datenkomprimierungstechniken der Eaglets, soweit wir aus ihnen schlau wurden, besaßen unmittelbares kommerzielles Potenzial. Nach ihrer Patentierung und Lizenzierung durch die Regierung des Vereinigten Königreichs begann eine Informationsrevolution, die die britische Zahlungsbilanz schon im ersten Jahr um hundert Milliarden Euros aufbesserte. Die nicht einbezogenen Regierungen und Konzerne kochten vor Wut.

Dann begannen Wilson und sein Team auf diversen Kanälen zu veröffentlichen, was sie über die Eaglets selbst in Erfahrung brachten.

Wir wissen nach wie vor nichts darüber, wie sie aussehen, wie sie leben – wir können noch nicht einmal sagen, ob sie überhaupt körperlich existieren. Aber im Vergleich zu uns sind sie alt, ungeheuer alt. Ihre kulturellen Aufzeichnungen reichen eine Million Jahre zurück, vielleicht zehnmal so lang, wie es uns Menschen gibt, und auch damals haben sie ihre Zivilisation schon auf den Ruinen anderer errichtet. Dennoch betrachten sie sich als junge Spezies. Sie leben in Ehrfurcht vor noch älteren, die sie tief im turbulenten Kern der Galaxis entdeckt haben.

Es ist keine Überraschung, dass die Eaglets von der Zeit und ihren Abläufen fasziniert sind. Ein Mitglied von Wilsons Team äußerte törichterweise die Vermutung, die Eaglets hätten womöglich sogar eine Religion aus der Zeit gemacht, indem sie das einzige Allgemeingültige vergöttlichten, das uns alle am Ende dahinschwinden lässt. Das hat für erhebliche Unruhe gesorgt. Manche Leute nahmen den Zeitglauben mit Enthusiasmus auf und suchten in menschlichen Weltanschauungen, denen der Hindus und der Mayas, nach Parallelen. Wenn die Eaglets wirklich intelligenter seien als wir, sagten sie, müssten sie dem wahren Gott näher sein, und wir sollten ihnen folgen. Andere, angeführt von den traditionellen Religionen, schlugen genau die entgegengesetzte Richtung ein. Wegen eines Glaubens, den die Menschheit noch fünf Jahre zuvor nicht einmal gekannt hatte und den niemand auf der Erde auch nur ansatzweise verstand, brachen kleinere Kriege aus.

Dann begannen die wirtschaftlichen Umbrüche, weil die neuen Techniken für den Umgang mit Daten ganze Branchen obsolet machten. Das war zu erwarten; es war, als hätten die Aliens eine Invasion in den Cyberspace unternommen. Maschinenstürmer begannen, die Software-Häuser zu sabotieren, die die Systeme der neuen Generation produzierten, und in der Unternehmenswelt brachen Kämpfe aus, die sich selbst auf dem wirtschaftlichen Niveau kleiner Kriege bewegten.

Inmitten all der ökonomischen, politischen, religiösen und weltanschaulichen Turbulenzen war eines offensichtlich: Falls jemand davon geträumt hatte, die Begegnung mit dem Fremden würde uns als Menschen zusammenschweißen, so lag er komplett daneben.

»Das ist die Gefahr der Geschwindigkeit«, hatte Wilson zu mir gesagt – das war vor wenigen Wochen gewesen, bevor er sich mit Semtex verdrahtete. »Hätten wir’s langsamer angehen lassen können, wäre die Enthüllung der Botschaft mehr wie ein normaler wissenschaftlicher Vorgang gewesen, und wir hätten sie in Ruhe aufnehmen und verarbeiten, mit ihr wachsen können. Stattdessen war es dank der Viren wie eine Offenbarung, ein Einströmen des heiligen Wissens in unsere Köpfe. Offenbarungen wirken tendenziell destabilisierend. Sieh dir Jesus an. Schon dreihundert Jahre nach der Kreuzigung hatte das Christentum im gesamten Römischen Reich die Macht übernommen …«

Dann wurde es noch schlimmer. Mithilfe von Raubkopien der Eaglet-Viren zerstörte eine Gruppe algerischer Patrioten die elektronische Infrastruktur der französischen Großstädte. Während alles zusammenbrach, vom Abwassersystem bis zur Luftverkehrsüberwachung, wurde das Land zusätzlich mit Bombenattentaten in Zügen, Bazillen in der Wasserversorgung und einer schmutzigen Atombombe in Orléans angegriffen. Es war eine Wirkungsmultiplikator-Attacke, wie die Fachleute es nannten; selbst nach den Maßstäben der vierten Dekade des blutigen einundzwanzigsten Jahrhunderts war der Tribut an Toten und Verletzten ein Schock. Angesichts der ETI-Viren fruchteten unsere Gegenmaßnahmen rein gar nichts.

In dieser Situation beschloss die Regierung, das Eaglet-Projekt abzubrechen oder zumindest unter sehr strenge Aufsicht zu stellen. Aber das wollte mein Bruder nicht zulassen.

»Nichts davon ist die Schuld der Eaglets«, sagte er jetzt, ein Alien-Apologet mit Semtex-Paketen um die Taille. »Sie wollten uns keinen Schaden zufügen.«

»Was wollen sie dann?«

»Unsere Hilfe …«

Und die würde er ihnen gewähren. Wiederum mit meiner Hilfe.

»Warum ich? Ich bin rausgeflogen, wie du weißt.«

»Auf dich werden sie hören. Die Polizei. Weil du mein Bruder bist. Du bist nützlich.«

»Nützlich?« Manchmal schien Wilson außerstande zu sein, in Menschen – und seien es seine eigenen Angehörigen – etwas anderes zu sehen als Geschöpfe mit einem bestimmten Gebrauchswert. Ich seufzte. »Sag mir, was du willst.«

»Zeit«, sagte er mit einem Blick auf seinen Bildschirm und die darüber hinweglaufenden Daten und Statusberichte. »Der große Gott der Eaglets, erinnerst du dich? Zeit. Nur noch ein bisschen mehr.«

»Wie viel?«

Er überprüfte es. »Vierundzwanzig Stunden würden mir reichen, um diesen Download abzuschließen. Höchstens. Halte sie einfach hin. Lass den Gesprächsfaden zu den Cops nicht abreißen, aber bleib hier bei mir. Sie sollen denken, dass du Fortschritte darin machst, mir die Sache auszureden.«

»Während der wirkliche Fortschritt da drin stattfindet.« Ich machte eine Kopfbewegung zum Bildschirm. »Was treibst du hier, Wilson? Worum geht es?«

»Ich weiß noch nicht alles.« Er senkte die Stimme. »Es gibt Hinweise in den Daten. Manchmal Subtexte …«

»Subtexte wozu?«

»Zu dem, was die Eaglets wirklich interessiert. Was glaubst du, Jack, was eine langlebige Zivilisation will? Wenn du in sehr großen Zeiträumen denken könntest, würdest du dir Sorgen wegen Gefahren machen, die uns fernliegen.«

»Vielleicht ein Asteroideneinschlag in tausend Jahren? Wenn ich davon ausgehen würde, dass ich so lange lebe, oder meine Kinder …«

»Solche Sachen, ja. Aber dieser Zeitraum ist auch nicht annähernd groß genug, Jack. In den Daten gibt es Passagen – vielleicht Gedichte –, in denen es um die tiefste Vergangenheit und die fernste Zukunft geht, um den Urknall, der im Mikrowellenhintergrund widerhallt, um die Zukunft, die von der Ausdehnung der dunklen Energie geprägt sein wird, die letztendlich alle anderen Galaxien über den kosmologischen Horizont hinaustreibt … Über solche Dinge machen sich die Eaglets Gedanken, und nicht nur in Form wissenschaftlicher Hypothesen. Sie sind besorgt darüber. Die Macht ihres großen Gottes Zeit. ›Das Universum hat kein Gedächtnis.‹«

»Was bedeutet das?«

»Ich bin mir nicht sicher. Eine Redewendung in der Botschaft.«

»Und was lädst du nun herunter? Und wohin?«

»Zum Mond«, sagte er unumwunden. »Zum Clarke-Teleskop auf der Rückseite. Sie wollen, dass wir etwas bauen, Jack. Etwas Physisches, meine ich. Und mit den Fabrikatoren und den anderen Wartungsgeräten beim Clarke könnte uns das sogar gelingen. Klar, es ist nicht die fortschrittlichste Roboteranlage im Weltraum; sie ist eigentlich nur für die Wartung und Aufrüstung des Radioteleskops gedacht …«

»Aber du hast Zugriff auf sie. Also entlässt du diese Eaglets-Agenten aus ihrer virtuellen Welt und ermöglichst es ihnen, etwas Reales zu bauen, in unserer Welt. Meinst du nicht, das könnte gefährlich sein?«

»Gefährlich? Wieso das denn?« Er lachte mich aus und schaute weg.

»Wende dich ja nicht von mir ab, du Arschloch. Das hast du schon unser ganzes Leben lang getan. Du weißt, was ich meine. Also, allein schon die Software der Eaglets stürzt die Welt ins Chaos. Was, wenn das eine Art trojanisches Pferd ist – eine Weltvernichtungswaffe, die sie sich auch noch von uns Trotteln eigenhändig bauen lassen?«

»Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass eine fortgeschrittene Kultur …«

»Erspar mir diesen Kontaktoptimistenquatsch. Das glaubst du doch selbst nicht. Und falls doch, du weißt es nicht genau. Du kannst es gar nicht wissen.«

»Nein … na schön.« Er entfernte sich von mir. »Ich kann es nicht wissen. Das ist ein Grund, weshalb ich dafür gesorgt habe, dass es auf dem Mond stattfindet und nicht auf der Erde. Sagen wir, es ist eine Quarantäne. Was immer es sein mag – wenn es uns nicht gefällt, haben wir zumindest eine Chance, es da oben in Schach zu halten. Ja, ein Risiko besteht. Aber die Belohnungen, auch wenn wir sie nicht kennen, werden gewaltig sein.« Er sah mich an, und in seinen Augen stand der fast flehentliche Wunsch, dass ich es verstehen möge. »Wir müssen weitermachen. Es ist das Projekt der Eaglets, nicht unseres. Seit wir die Botschaft ausgepackt haben, geht es bei dieser Geschichte um sie, nicht um uns. Das bedeutet, mit einer überlegenen Intelligenz in Kontakt zu stehen. Es ist so, wie diese religiösen Spinner sagen. Wir wissen, dass die Eaglets um Größenordnungen intelligenter sind als wir. Sollten wir ihnen nicht vertrauen? Sollten wir ihnen nicht helfen, ihr Ziel zu erreichen, selbst wenn wir nicht bis ins Kleinste verstehen, was es ist?«

»Jetzt ist Schluss damit.« Ich streckte die Hand nach der Tastatur neben mir aus. »Sag mir, wie man den Download stoppt.«

»Nein.« Er saß entschlossen da. Seine rechte Hand umklammerte diesen Schalter.

»Den wirst du nicht benutzen. Du würdest uns nicht beide umbringen. Nicht für etwas so Abstraktes, Unmenschliches …«

»Übermenschliches«, hauchte er. »Nicht Unmenschliches. Übermenschliches. O doch, das würde ich. Du kennst mich schon dein ganzes Leben lang, Jack. Schau mir in die Augen. Ich bin nicht so wie du. Glaubst du’s mir wirklich nicht?«

Als ich ihn so ansah, glaubte ich es ihm. Wir saßen uns gegenüber, wie bei einem stummen Duell. Ich blieb nah genug bei ihm, um ihn überwältigen zu können, wenn er mir auch nur die geringste Chance dazu bot. Und er hielt mir seinen Schalter vor die Nase.

Stunde um Stunde.

Am Ende besiegte ihn die Zeit, denke ich, der unsichtbare Gott der Eaglets. Und die Müdigkeit. Ich bin überzeugt, dass er den Schalter nicht mit Absicht losgelassen hat. Von den vierundzwanzig Stunden, um die er gebeten hatte, waren erst siebzehn verstrichen, als ihm der Daumen wegrutschte.

Ich versuchte mich abzuwenden. Wegen dieser kleinen, instinktiven Geste verlor ich nur ein Bein, eine Hand und ein Auge, alles auf meiner rechten Seite.

Und ich verlor einen Bruder.

Doch als die Leute von der Spurensicherung mit der Untersuchung der Trümmer fertig waren, konnten sie beweisen, dass die siebzehn Stunden für Wilsons Download gereicht hatten.

 

2040 n. Chr.

Nach der Explosion brauchten die NASA, die ESA und die Chinesen einen Monat, um einen Orbiter zum Mond zu schicken und nachzusehen, was dort vorging.

Die Sonde stellte fest, dass Wilsons Download die Clarke-Fabrikatoren veranlasst hatte, Dinge herzustellen. Zuerst bauten sie andere, stärker spezialisierte Maschinen aus dem Material, das in den Werkstätten und Schuppen herumlag. Diese produzierten wiederum immer kleinere Versionen ihrer selbst, bis hinunter in den Nanobereich. Am Ende war die Arbeit so fein, dass nur ein Astronaut am Boden vielleicht eine Chance gehabt hätte, sie überhaupt wahrzunehmen. Niemand wagte es jedoch, einen Menschen dorthin zu schicken.

Unterdessen häuften die Maschinen Mondstaub und Schrott an, um eine Hochenergieanlage zu errichten – so etwas wie einen Teilchenbeschleuniger oder Fusionsreaktor, aber in Wirklichkeit keines von beiden.

Dann begann die eigentliche Arbeit.

Die Eaglet-Maschinen zerkleinerten einen großen Brocken Mondgestein und verwandelten seine Massenenergie in ein Raumzeitartefakt – so etwas wie ein schwarzes Loch, aber in Wirklichkeit keines. Sie versenkten es im Körper des Mondes, wo es Materie anzusammeln und einzusaugen begann, genau wie ein schwarzes Loch – doch anders als ein schwarzes Loch erzeugte es dabei eigenständige Kopien seiner selbst.

Die Regierungen gerieten in Panik. Nuklearsprengköpfe wurden aus dem Kühlraum geholt und mitten im Daedalus-Krater abgeworfen. Die Explosionen waren spektakulär. Doch als der Staub sich legte, war dieser blasse, unirdische Funke noch immer da, unbeirrt.

Diese Objekte, diese winzigen schwarzen Löcher, verwandeln die Substanz des Mondes nun allmählich in Kopien ihrer selbst. Der Lichtpunkt, den wir im Zentrum von Clarke sehen, besteht aus der dabei erzeugten austretenden Strahlung. Während die Ansammlung von Nanoartefakten wächst, wird die Substanz des Mondes in exponentiellem Maße aufgezehrt. In ein paar Jahrhunderten, höchstens einem Jahrtausend, dürfte alles verschlungen sein. Dann wird die Erde nicht mehr von ihrem uralten Gefährten umkreist, sondern von einem Raumzeitartefakt, das einem schwarzen Loch ähnelt, aber in Wirklichkeit keines ist. So viel scheinen die Physiker zweifelsfrei festgestellt zu haben.

In Bezug auf die Frage, was der Zweck des Ganzen sein könnte, herrscht weniger Übereinstimmung. Hier ist meine Vermutung:

Das Mondartefakt wird ein Aufzeichnungsgerät sein.

Wilson zufolge befürchteten die Eaglets, das Universum habe kein Gedächtnis. Damit meinte er wohl, dass wir in unserer gegenwärtigen kosmischen Epoche noch immer Überbleibsel der Geburt des Universums im Hintergrundleuchten sehen können, Echos des Urknalls. Und im Zurückweichen der ferneren Galaxien sehen wir auch Anzeichen für die bevorstehende Ausdehnung. Diese beiden grundlegenden Merkmale des Universums, seiner Vergangenheit und seiner Zukunft, haben wir im zwanzigsten Jahrhundert entdeckt.

Es wird eine Zeit kommen – den Kosmologen zufolge in Hunderten von Jahrmilliarden –, in der das immer schnellere Zurückweichen diese fernen Galaxien allesamt über unseren Horizont hinausgetragen haben wird. Dann bleibt uns nur noch die lokale Gruppe, die Milchstraße, Andromeda und kleinere Elemente, die durch die Schwerkraft aneinandergefesselt sind. Die umfassendere kosmische Ausdehnung wird unsichtbar sein. Und zugleich wird die Hintergrundstrahlung so stark abgenommen haben, dass man sie nicht mehr aus dem schwachen Leuchten des interstellaren Mediums herausfiltern kann.

In dieser fernen Zeit ließen sich die Entdeckungen des zwanzigsten Jahrhunderts also nicht mehr wiederholen; man könnte weder in die Vergangenheit noch in die Zukunft schauen. Das meinen die Eaglets, wenn sie sagen, das Universum habe kein Gedächtnis.

Und ich glaube, sie unternehmen etwas dagegen. Sie und andere wie Wilson, die sie als Helfer rekrutierten, erzeugen Zeitkapseln aus gefalteter Raumzeit. Diese Kapseln werden sich in einer zukünftigen Epoche auflösen, vielleicht durch so etwas wie die Hawking-Strahlung, und denjenigen Augen, die dann da sind, um es zu sehen, die Wahrheit des Universums offenbaren.

Die Eaglets sind mit Bewusstsein ausgestattete Wesen, die dem Universum ein Gedächtnis verleihen wollen. Vielleicht hat das sogar einen tieferen Sinn: Womöglich ist es die Funktion der Intelligenz, die letzte Evolutionsstufe des Universums zu gestalten, aber das geht nicht, wenn man vergessen hat, was vorher geschehen ist.

Natürlich denke ich manchmal – das ist Wilsons Prinzip der Mittelmäßigkeit –, dass unsere Epoche nicht die einzige sein könnte, die einen privilegierten Blick auf den Kosmos genießt. Unmittelbar nach dem Urknall gab es eine »Inflation«, eine superschnelle Ausdehnung, die das Universum homogenisiert und Details des Vorangegangenen ausgelöscht hat. Vielleicht sollten wir nach anderen Zeitschachteln Ausschau halten, die uns die Bewohner dieser frühen Gefilde hinterlassen haben.

Natürlich stimmen nicht alle Kommentatoren mit meiner Analyse überein. Bei der Interpretation der Eaglet-Daten gab es immer einen gewissen Spielraum für Fehler. Vielleicht wäre sogar Wilson anderer Meinung. Nun ja, da es mein Vorschlag ist, würde er mir wahrscheinlich schon rein reflexartig widersprechen.

Ich nehme an, es ist möglich, sich ernste Sorgen um die schlimme Lage hypothetischer Wesen in hundert Milliarden Jahren zu machen. Eigentlich sollten wir das auch tun; ihre Epoche ist das unausweichliche Schicksal unserer Nachfahren. Wilson hat sich jedenfalls genug Sorgen gemacht, um sich dafür umzubringen. Aber das ist ein derart gewaltiges und kaltes Projekt, dass sich nur ein quasi unsterbliches Superhirn wie das eines Eaglets damit befassen kann – oder das eines funktionellen Psychopathen der heutigen Zeit.

Für mich steht das Jetzt im Mittelpunkt. Die kleine Hannah. Die Söhne, die noch nicht alt geworden und zu Staub zerfallen sind, die unter einer Sonne, die noch nicht zu einem Schlackebrocken verglüht ist, Fußball spielen. Dass all dies vergänglich ist, mindert seinen Wert nicht, sondern macht es umso kostbarer. Vielleicht werden unsere fernen Nachfahren in hundert Milliarden Jahren unter ihrem schwarzen, unveränderlichen Himmel ein ähnliches kurzes Glück finden.

Wenn ich mir für meinen verlorenen Bruder eines wünschen könnte, dann wäre es die Gewissheit, dass er ebenso empfunden, sich ebenso lebendig gefühlt hat, und sei es nur für einen einzigen Tag. Nur für eine Minute. Denn letztendlich ist das alles, was wir haben.

 

Stephen Baxter: Turings Äpfel • Erzählung aus „Obelisk“ • Aus dem Englischen von Peter Robert • Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 • als Taschenbuch und E-Book erhältlich • Preis des E-Books: € 9,99 im Shop

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