17. Oktober 2022 1 Likes

Unsere Gespenstergeschichten

Was wäre das Leben ohne die Kopfgeburten, die Nacht- und Schattenseiten unseres Selbsts?

Lesezeit: 4 min.

Serafina hat stabile Knochen; sie bringt, jedenfalls jetzt, nach erfolgreich absolvierter Diät, neunzig Kilogramm auf die Waage - eine „Wuchtbrumme“ hat Pino sie genannt, und zwar völlig zurecht.

Die Wuchtbrumme ist schlagfertig in jeder Beziehung. Sie arbeitet telefonisch, berät und befragt. Kommt ihr jemand komisch am Telefon, setzt es eine spitze Bemerkung; kommt ihr jemand komisch in der materiellen Welt, dann enden ihre diesbezüglichen Berichte gerne mit „… und da habe ich ihm halt eine geschallert!“ Deswegen ist sie vor Gericht bekannt wie ein bunter Hund, und sie hat ein Pferd.

Sie macht ihrem Pferd, es heißt Pinacolada, Geschenke, packt die Geschenke daheim in buntes Papier ein, im Stall wieder aus, na, was mag das sein, sollen wir mal nachsehen, Pina? Das Pferd überlegt noch, da fliegen schon die farbigen Fetzen Papier, als hätte es einen Regenbogen zerrissen, und die Überraschung wird enthüllt. Vor Weihnachten gibt es einen Adventskalender, den Serafina selbst gebastelt und dessen vierundzwanzig selbst genähte Beutelchen sie selbst befüllt hat.

Selten, dass sie reitet. Neulich ist sie vom Pferd gefallen und musste danach einige Wochen im Rollstuhl verbringen. Es war ein Jammer. Wenige Wochen zuvor waren bei ihr Lungentuberkulose, Multiple Sklerose sowie eine verschleppte Malaria diagnostiziert worden, und zwar von ihr selbst. Denn was wissen die Ärzte schon? Und nun das: akute Wirbelsäulenstauchung, sehr schmerzhaft, Rollstuhl. Hätte man allerdings mit ihrer Mutter über diese schwere Zeit sprechen wollen, man wäre auf ein gewisses Unverständnis gestoßen. Serafina wohnt nämlich souterrain im Haus ihrer Mutter. Jeden Morgen weckt ihre Mutter sie mit der Frage: „Finchen, bist du wach?“

Ja, ja, sagt Serafina dann. Das ist ihr gemeinsames allmorgendliches Ritual. Freilich, es gibt schlimmere Rituale: Menschenopfer, Fuchsjagd und so weiter. Es ist ein mildes Ritual, und Serafina schläft, kaum hat ihre Mutter das Haus zur Arbeit verlassen, wieder den Schlaf der Pferdeliebhaberinnen. Von einer schweren Zeit, den Rollstuhl ins Souterrain und wieder hinauf, wüsste die Mutter allerdings nichts.

Auch von Pino weiß sie nichts, diesem einen und herzeinzigen, der Serafinas Ex, einem kopfkleineren Beinahe-Nazi, nachfolgte; weiß sie nichts, obwohl diese Beziehung dem Vernehmen nach stürmisch einer Traumhochzeit zustrebt. Neulich noch hat sich Serafina, während sie mit einer Freundin im Café saß, entschuldigt, sie müsse sich kurz die Nase pudern, um von der Toilette mit einem sorgfältig bepinkelten Schwangerschaftsteststick zurückzukommen, den sie auf den Tisch und zwischen sich und die Kuchenteller knallte, und sie sprach: „Na, da wollen wir mal schauen! Bestimmt wird es ein Mädchen. Wir werden ein echtes Powerfrauenteam, Powermama und Powertochter!“ Sie schaute lange, aber siehe: Der Stick wollte ihr keine Tochter annoncieren.

Pino, ihr Freund, Galan, Liebhaber und Langzeitverlobter, stammt aus dem Bergkarabachischen, die Familie ein bärtiger Clan, schweigsame Frauen, der Hochzeitsdolch schon gekauft, der Hochzeitskuchen aus magerem Rindfleisch gepökelt. Allein, mit bloßem Auge ist Pino wie der Weltgeist, der Erzengel Barachiel oder die virtuellen Teilchen im Quantenschaum: nicht sichtbar. Mal lebt er in Thüringen, mal in Den Haag, handelt mit in- oder exportierten Waren, ein Mann von Welt, nur eben unsichtbar.

Neulich ist Serafina Heldin gewesen: nächtliche Geräusche, Gewese, Geklirr. Sie natürlich gleich auf, was geht da vor? Es kommt vom Nachbarhaus, dem Kindergarten. Sie also los, eine Stabtaschenlampe in der Hand, wie sie Polizisten in Chicago tragen in finsterster Gangsternacht. Tatsächlich, die Tür zum Kleineleutehaus steht auf, also nichts wie rein. Da!, ein Mann, schwarz vermummt, sie ihm den Strahl der Taschenlampe mitten ins Gesicht. Der Schurke hat sich an einem Schrank zu schaffen gemacht. „Oho“, sagt sie, „was hoffen wir denn da zu finden? Buntstifte, die guten von Castle-Art? Kinderzeichnungen von Picasso?“ Der Gauner, geflasht von so viel Coolness, reißt natürlich aus, sie hinterher, die stabilen Knochen beflügeln sie, lassen sie in der Luft liegen wie eine Falkenfrau, links die Cop-Taschenlampe, rechts das Mobile am Ohr, so folgt sie dem Einbrecher und gibt der Polizei den Standort des kriminellen Elements durch. Die Polizei, clever, rollt herbei, ohne Sirene und Blaulicht. Geschafft!

Exakt und bis auf jedes Quentchen dasselbe hat Tarik Yüksel erlebt, der kürzlich zugezogene Nachbar: Zur selben Zeit hört er Verdächtiges aus dem Kindergarten, gleichzeitig sprintet er aus dem Haus, verfolgt den Schwarzvermummten, hält die Schupos auf dem Laufenden und ermöglicht die Festnahme. Zufälle gibt es, man glaubt es kaum. Serafina jedenfalls weiß, was sie geleistet hat, da können alle Tariks der Welt Kindergartenschändern nachsetzen, so viel sie wollen.

Hat nicht der große David Foster Wallace gesagt: Jede Liebesgeschichte ist eine Gespenstergeschichte? Ob er vielleicht untertrieben hat und man sagen müsste: Jede Lebensgeschichte ist eine Gespenstergeschichte. Jedes Leben besteht aus solchen Geschichten voller Doppelgänger, Kopfgeburten, Nacht- und Schattenseiten unseres Selbsts, immateriellen Heldentaten und inneren Weltreisen, die jeden Odysseus vor Neid erblassen lassen.

Und die Realität? Wäre nur ein schmaler Streifen zwischen diesen entstofflichten Landschaften, wo wir uns gelegentlich treffen und gewisse Hormonnachweisstäbchen die Frechheit haben, uns die uns zustehenden Nachkommen vorzuenthalten.

Übrigens hat Serafina auch einen Hund, der, von gleicher stabilen Knochenbauweise wie sie, das Laufen scheut und deswegen von seinem Frauchen neuerdings in einem Kinderwagen spazierengefahren wird.

Nimm das, Schwangerschaftsnachweis!

 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.