6. Juni 2025

„Glaubensbekenntnis des SF-ismus“

Wie Science-Fiction-Literatur mit dem Universum umgehen sollte – Ein Essay aus „Der Blick von den Sternen“

Lesezeit: 9 min.

In „Der Blick von den Sternen“ (im Shop), der neuesten Sammlung von Erzählungen, Essays und Interviews, gibt Cixin Liu erstmals Einblick in die Entstehungsgeschichte seines literarischen Denkens. Was hat Liu zur Science-Fiction gebracht? Kann ein Schmetterling einen Krieg verhindern? Welche Spezies ist der wahre Herrscher des Erdballs? Was sehen wir, wenn wir von den Sternen her zur Erde zurückblicken? 19 Texte, in denen Cixin Liu die Weiten des kosmischen Erzählens durchmisst.

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Cixin Liu: Der Blick von den SternenEs mangelt der zeitgenössischen chinesischen Science-Fiction an vielen Dingen, darunter an einer Sache, die bisher noch niemand beachtet oder thematisiert hat. Und das, obwohl sie von größter Wichtigkeit ist.

Der chinesischen Science-Fiction mangelt es an religiösem Empfinden.

Dazu möchte ich zunächst klarstellen, dass ich überzeugter Atheist bin. Jeder von uns weiß, dass sich Religion und Wissenschaft nicht sonderlich gut vertragen. Dasselbe sollte also auch für Religion und Science-Fiction gelten. Dennoch sind manche Gelehrte der Meinung, es sei gerade die tief in der westlichen Kultur verankerte Religiosität gewesen, die die Entstehung der modernen Naturwissenschaften dort begünstigt habe. Aber dieses Thema ist so unerschöpflich, dass sich ein dicker Wälzer darüber verfassen ließe, ohne am Ende für mehr Klarheit gesorgt zu haben. Deshalb möchte ich es hier nicht weiter vertiefen, sondern lediglich über ein Religionsgefühl in der Science-Fiction sprechen.

Achtung: Wir sprechen nicht über Religion, sondern über ein Religionsgefühl. Also nicht das Gefühl, das man Gott gegenüber empfindet. Das, worum es mir geht, braucht keinen Gott, es ist aber auch nicht so kompliziert wie bei Spinoza. Religiöses Empfinden in der Science-Fiction bedeutet eine tiefe Ehrfurcht vor der Grandiosität und den Mysterien des Universums.

Dazu zwei Beispiele. Das erste schildert eine interstellare Verfolgungsjagd zwischen einer Verbrecherbande und der Polizei:

Der Polizeigleiter bleibt dem Raumschiff der Schmuggler dicht auf den Fersen, während diese einen Planeten nach dem anderen passieren. Im Vorbeifliegen prüft der Kapitän des Schmugglerschiffs ihre Oberflächenbeschaffenheit auf der Suche nach einem geeigneten Landeplatz für eine letzte Entscheidungsschlacht mit seinen Verfolgern, doch er wird nicht fündig. Mit jedem Blick über die Schulter scheint das Polizeischiff ein Stück naher zu kommen, also bleibt ihm nichts anderes übrig, als mit zusammengebissenen Zähnen weiterzufliegen …

Im zweiten Beispiel wird das Aufeinandertreffen zweier gigantischer interstellarer Raumkreuzer beschrieben, die mit annähernder Lichtgeschwindigkeit im All unterwegs sind:

»Wir haben sie ganz knapp verpasst!«, rief der Navigator des Raumschiffs XX, woraufhin der Steuermann sogleich mit aller Macht das Ruder herumriss. XX vollführte eine Kehrtwende und nahm die Verfolgung des anderen Schiffs auf …

Diese beiden Szenen stammen, grob vereinfacht, aus unserer inländischen Science-Fiction-Literatur. Beim ersten Text bekommt der Leser den Eindruck, das Universum unterscheide sich in seiner Dimension im Grunde kaum von jeder x-beliebigen Kleinstadt in jedem x-beliebigen Kriminalfilm, und Planeten im Weltraum seien im Wesentlichen nichts anderes als die Geschäfte entlang der Hauptstraße. Im zweiten Beispiel kommt es ihm vor, als verhielten sich interstellare Raumschiffe, die mit Lichtgeschwindigkeit durchs All jagen, kaum anders als Taxis im Großstadtverkehr.

Diese Art der Beschreibung lässt die Leser jedes Gefühl für die gewaltigen Dimensionen des Universums verlieren. Sie stumpfen ab. Ich will damit nicht sagen, dass ich solche Schilderungen rundheraus ablehne, schließlich finden sich solche Szenen selbst in Werken von Weltrang, zum Beispiel in Robert Sheckleys »Ein Irrtum der Regierung«. In solchen Parabeln dient der Kosmos oft als reiner Handlungstreiber. Aber darin liegt nicht der eigentliche Reiz von Science-Fiction.

Durch die tiefschwarze Stille des interstellaren Raums fliegt ein gigantisches Raumschiff seinem fernen Ziel entgegen. Zweitausend Jahre braucht es, um vollends zu beschleunigen, dreitausend für den Gleitflug und weitere zweitausend, um wieder abzubremsen. Generationen von Menschen werden in seinem Inneren geboren und vergehen, die Erde ist kaum mehr als eine Illusion, ein Traum aus grauer Vorzeit. Allein anhand der historischen Aufzeichnungen und Artefakte können die Schiffsarchäologen ihre Existenz nicht mehr zweifelsfrei belegen. Auch das Ziel der Reise ist zu einem jahrtausendealten Mythos geworden, den eine Generation an die nächste weitergibt wie eine Art Phantom-Religion. Längst schon wissen die Menschen nicht mehr, woher sie kommen oder wohin sie gehen. Der überwiegende Teil hält das Raumschiff für ewig und unveränderlich, für eine Welt, die schon immer da war und für immer fortdauern wird. Nur eine kleine Gruppe von Wissenden ist weiter fest von der Existenz des Reiseziels überzeugt und hält den Blick Tag um Tag und Nacht um Nacht suchend in die unendlichen Weiten des Weltraums gerichtet, die vor ihnen liegen …

Das sind die Themen, mit denen sich das Gros der westlichen Science-Fiction-Literatur befasst. Welche Empfindungen weckt eine solche Schilderung in Ihnen? Fühlen Sie die schier endlose Weite des Universums? Die Kürze eines Menschenlebens? Womöglich regt sie Sie dazu an, die Menschheitsgeschichte in ihrer Gesamtheit aus der Vogelperspektive zu betrachten, quasi durch die Augen Gottes, vom Standpunkt des Universums aus. Sie sind ergriffen von der Erkenntnis, dass unsere gesamte Kultur nicht mehr ist als ein winziges Sandkorn in der unendlichen Wüste der Raumzeit …

Viele Menschen glauben, dass sich das Universum durch Technologien zur Fortbewegung mit Überlichtgeschwindigkeit oder Reisen durch die Zeit, wie wir sie in der Science-Fiction-Literatur finden, zwangsläufig kleiner anfühlen muss. Und das stimmt ja auch. Sollte es tatsächlich einmal möglich sein, mit Überlichtgeschwindigkeit zu reisen, wird das Universum den Menschen vielleicht genauso wie ein Dorf vorkommen wie uns heute die Erde. Aber wir sprechen über Literatur.

Mal angenommen, Sie hätten die Wahl zwischen zwei Romanen: Der erste handelt von Kolumbus’ Fahrt über die unermesslichen Weiten des Atlantischen Ozeans, seinem Schwanken zwischen blasser Furcht und vager Hoffnung auf der Suche nach einem neuen Kontinent; im zweiten geht es um einen Firmenangestellten, der mit dem Flugzeug eine Dienstreise von Paris nach New York antritt. Für welchen entscheiden Sie sich? Währenddessen ist die Erde in der Realität kein bisschen geschrumpft, Ozeane und Kontinente immer noch genauso weit und gewaltig wie eh und je. Menschen begeben sich auf lange Wandertouren oder Segelregatten wie den »America’s Cup«, um der Art von Abenteuerromantik nachzuspüren, die unsere Vorfahren bei ihren Reisen über die Oberfläche dieses Planeten erlebt haben mögen.

Die allermeisten Menschen haben momentan nicht einmal die Möglichkeit, die Erdatmosphäre zu verlassen, daher sehe ich keinen Grund für die Science-Fiction, das Universum auf Dorfgröße zu schrumpfen. Und noch wichtiger – selbst Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit würde nichts daran ändern, wie geheimnisvoll und atemberaubend es in seiner Gesamtheit ist.

In seiner Kurzgeschichte »Der Vater der Sterne« erzählt Frederik Pohl vom Milliardär Norman Merchand und dessen Lebenswerk, das darin besteht, 26 gigantische Raumfrachter zu bauen, die, ausgestattet mit herkömmlicher Raketenantriebstechnologie, Zehntausende Passagiere hinaus in die Weiten des Universums befördern, auf der Suche nach neuem Lebensraum für die Menschheit. Ein paar Jahrzehnte nach ihrem Aufbruch gelingt den Wissenschaftlern zu Hause auf der Erde der Durchbruch, und das Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit wird Realität. Ein Raumschiff mit dem greisen Norman Merchand selbst an Bord bricht auf und überholt innerhalb von ein, zwei Tagen die Jahre zuvor losgeflogenen herkömmlichen Schiffe. Die Großtat, der er und die abertausend Raumpioniere ihr Leben gewidmet haben, wird zu einer sinnlosen Tragödie degradiert. Indem er die beiden Technologien kontrastiert, zeigt Pohl die unermessliche Weite des Weltalls, den tragischen Heroismus der Vorkämpfer und die Erbarmungslosigkeit des Schicksals.

Als Höhepunkt des Zeitsprung-Genres darf wohl »2001: Odyssee im Weltraum« von Arthur C. Clarke gelten. Das Grauen, die Einsamkeit und die Ehrfurcht des Menschen angesichts der Mysterien des Universums, die in diesem Roman zum Ausdruck kommen, vergisst man nie wieder. Ich erinnere mich noch an eine Winternacht vor zwanzig Jahren, als ich das Buch gerade ausgelesen hatte. Ich ging nach draußen, sah hoch zum Nachthimmel, und plötzlich verschwand alles um mich herum. Die Erde unter meinen Füßen verwandelte sich in eine schneeweiße, glatte, rein geometrische Ebene, die sich bis in die Unendlichkeit erstreckte. Auf dieser zweidimensionalen Fläche unter dem prächtigen Sternenhimmel stand ich allein und einsam vor diesem gewaltigen Mysterium, das ein Menschengehirn unmöglich begreifen kann … Seither sehe ich den Sternenhimmel mit anderen Augen. Ein Gefühl, als hätte ich das Ufer eines kleinen Teichs gegen die Gestade eines Ozeans eingetauscht. Es zeigte mir eindrücklich die Kraft, die eine Science-Fiction-Geschichte entfalten kann.

Unter den realen Gegebenheiten unserer modernen, geschäftigen Gesellschaft heben die Menschen den Blick nur selten zum Himmel. Meist ist er beschränkt auf die Realität in den sozialen Kästchen, in denen sie leben. Ich habe selbst mal zehn Leute gefragt, ob man tagsüber den Mond sehen kann. Bis auf einen, der sich nicht ganz sicher war, verneinten es alle im Brustton der Überzeugung. Hinzu kommt die Abstumpfung, was Zahlen angeht – ebenfalls ein Nebenprodukt der Moderne. Niemand macht sich die Mühe, einmal ernsthaft darüber nachzudenken, wie weit ein Lichtjahr wirklich ist. Auf einer tiefen Bewusstseinsebene macht es für die meisten Menschen im Grunde keinen Unterschied, ob man 15 Milliarden Lichtjahre sagt – eine Skala für das gesamte beobachtbare Universum – oder 15 Milliarden Kilometer.

Abstumpfung gegenüber dem Universum ist überall die Norm. Die Mission und Aufgabe von Science-Fiction ist es, dem Denken der Menschen zu mehr Weite und Tiefgang zu verhelfen. Wenn eine Science-Fiction-Geschichte es schafft, jemanden spätnachts nach getaner Arbeit auf dem Nachhauseweg innehalten und zum Sternenhimmel hochblicken zu lassen, dann ist sie gelungen. Leider muss ich sagen, dass unsere gegenwärtige Science-Fiction-Literatur ebenfalls der Abstumpfung anheimgefallen ist. Das mag zwei Arten von Ursachen haben.

Da wären zunächst konzeptionelle Gründe, etwa die Auffassung, Science-Fiction sei auch bloß eine Form von Belletristik und könne daher ebenso gut von zwischenmenschlichen Beziehungen handeln. Das Universum dient dem Werk dabei lediglich als Requisite, als Hintergrund, vor dem sich die Handlung abhebt. Ich will nicht leugnen, dass diese Konzeption von Science-Fiction einige großartige Werke hervorgebracht hat, aber die enorme Stärke und Faszination dieser Literatur liegt darin, die Beziehung zwischen Mensch und Kosmos zu beschreiben. Das Universum sollte daher eine ebenso wichtige Rolle spielen wie die menschlichen Protagonisten. Dass die Fortsetzungen von 2001: Odyssee im Weltraum, die Filme 2010: Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen und 2061: Odyssee III, nicht so erfolgreich waren wie das Original, liegt daran, dass sie ihren Fokus auf das komplexe Sozialgeflecht der Menschheit verschieben und dem Universum so alles Mystisch-Lyrische nehmen, das im ersten Band aufgebaut wurde.

Und zum anderen ist es ziemlich schwierig, ein Gefühl für das Universum zu bekommen. Steigen wir aufs Dach eines Hochhauses, dann kommt es uns vor, als liege uns die ganze Welt zu Füßen. Bei einem Flug mit einem Heißluftballon auf eintausend Meter Höhe verstärkt sich dieses Gefühl so sehr, dass uns schwindelig wird. Aber beim Blick aus dem Flugzeug in zwanzigtausend Metern Höhe ist diese Empfindung bereits deutlich abgeschwächt. Von der Umlaufbahn eines Raumgleiters ein paar Hundert Kilometer über der Erde aus betrachtet, braucht es schon einiges an Vorstellungskraft, um die Höhe zu spüren. Und wenn man vom Mond in über dreißigtausend Kilometern Entfernung aus zur Erde blickt, wird sich gar kein Höhenempfinden mehr einstellen, egal, wie sehr man sich anstrengt. Für unsere Augen wirkt sie dann nur noch wie ein niedliches blaues Spielzeug.

Der Umgang mit gewaltigen Maßstäben bereitet den menschlichen Sinnesorganen große Schwierigkeiten. Wie gewaltig der Kosmos ist, wird auch im mikroskopischen Bereich deutlich, der unseren Sinnen noch größere Probleme bereitet. Die moderne Wissenschaft unterdessen hat sowohl die Makro- als auch die Mikroebene so tiefgreifend durchdrungen, dass ihre Beschreibung des Universums nicht nur unsere Vorstellungen übertrifft, sondern auch unser Vorstellungsvermögen.

Um die immensen kosmischen Dimensionen nachzuvollziehen und literarisch Gestalt annehmen zu lassen, bedarf es nicht nur einer Vorstellungskraft, die über die eines Durchschnittsmenschen hinausgeht, man braucht zudem auch ein ausgefeiltes Ausdrucksvermögen und ein Publikum, das über eine weitreichende Wissenschaftskompetenz verfügt. Für die Science-Fiction-Literatur stellt dies zugleich eine enorme Herausforderung wie auch eine überaus attraktive Zielsetzung dar.

Doch all das setzt eines voraus, und zwar das besagte religiöse Empfinden bei denen, die Science-Fiction schreiben.

Ein Philosophieprofessor hat einmal gesagt, dass die allererste Unterrichtsstunde jedes Philosophiestudiums eigentlich darin bestehen müsste, nachts in den Sternenhimmel zu blicken. Ich meine, dasselbe sollte auch für Science-Fiction-Autoren gelten. Auf diese Weise lässt sich ein wahres, tiefes Gefühl für Science-Fiction entwickeln.

Der Gott der Science-Fiction ist das ebenso grandiose wie mysteriöse Universum. Und die Glaubensdoktrin des »SF-ismus« lautet:

Spüre die Größe und Tiefe des Herrn und schreibe darüber, auf dass die vielbeschäftigten Menschen es lesen und nachempfinden können. Mögen sie ebenfalls die Größe und Tiefe des Herrn spuren. So beglückst du dich selbst ebenso wie die Vielbeschäftigten.

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Aus dem Chinesischen von Johannes Fiederling

Dieser Text wurde am 20. Dezember 1999 in Niangziguan geschrieben und am 22. Februar 2000 im Internetforum Shuimu Tsinghua in der Rubrik »Science Fiction« veröffentlicht.

Cixin Liu: Der Blick von den Sternen · Erzählungen und Essays · Aus dem Chinesischen von Karin Betz, Johannes Fiederling und Marc Hermann · Wilhelm Heyne Verlag · 336 Seiten · Hardcover: € 20,- (im Shop)

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