7. Dezember 2018 1 Likes

Intergalaktischer Alpdruck

Christian Keßler beglückt das Publikum mit „Endstation Gänsehaut“, seiner Großerzählung vom Horrorkino

Lesezeit: 5 min.

Unter einigermaßen Eingeweihten trägt Christian Keßler den Ehrentitel des „Filmgelehrten“. Das klingt nach Bücherstaub auf der Hirnrinde, Fusseln im Bart und knochentrockener Akademiker-Autorität – jedenfalls nach einem, der viel weiß und sein Wissen bereitwillig teilt. Wie akkurat Letzteres auf Keßlers Schaffen zutrifft (wie lautet eigentlich das Wort für die filmbezügliche Entsprechung von „Belesenheit“?), ist bequem überprüfbar, indem man hin und wieder sein Facebook-Profil besucht oder, noch besser, es unverzüglich abonniert. Fast täglich gibt es dort (anlässlich einer Blu-ray-Veröffentlichung, einer TV-Ausstrahlung oder einfach so) druckreife Filmkritiken, von denen ausnahmslos jede sofort Lust auf den jeweiligen Film macht. Dabei wird die Kinohistorie in kompletter Breite und die Bewegtbild-Kunstform in all ihren Erscheinungsformen berücksichtigt. Sein System kennt keine Grenzen – bei dem, was dieser Mann rein mengenmäßig und dann auch noch überaus produktiv schöpferisch-weiterverarbeitend wegschaut, kann eigentlich kaum noch Zeit zum Schlafen und Schalstricken übrigbleiben.

Mit den erwähnten anderen Vorstellungen, die der Begriff der Gelehrsamkeit auslösen mag, haben die Texte Keßlers hingegen sehr wenig zu tun. Zu einem Regisseur, dessen Handschrift sehr verschieden gestimmte Filme hervorbringt, schreibt er: „Finde ich aber gut, wenn Leute Harfe UND Schlagzeug können.“ Der mit Daniel Radcliffe in der Hauptrolle besetzte Spukhaus-Film „Die Frau in Schwarz“ von 2012 wird punktgenau in „Harry Potter und das Geheimnis der hageren Oma“ umbenannt. Über Len Wisemans dösige Schauwert-Krawallschachtel „Underground“ (2003) liest man: „Die Charakterisierung der Figuren geht stramm gegen Null, alles ist Bewegung, alles kracht und zischt, jeder Griff zur Margarine ein eigener Videoclip.“ Und jene Grobgeschnitzten, denen Filme – wie reflektiert oder unreflektiert auch immer – wenig mehr sind als die eigenen Erwartungen bitteschön niemals übersteigende, den aktuellen Produktionsstandards genügende Dienstleistungsträger, werden charmant zur Ordnung gerufen, denn „… glaubt mir, Freunde, es gibt eine besondere Hölle für Idioten, die sich im Kino lautstark über Sachen beömmeln, die sie nicht verstehen, und damit den anderen ihren Kuckspaß kaputt machen!“

Das ist der Sound, um den es geht. Alle Zitate sind Christian Keßlers neuestem Werk namens „Endstation Gänsehaut“ entnommen. Nach Büchern über die Wonnen des Exploitation-Films (Wurmparade auf dem Zombiehof, Der Schmelzmann in der Leichenmühle), über die immensen Reize des Verkannt-Obskuren (Das versteckte Kino. Die besten Filme, von denen Sie niemals gehört haben!) sowie über die bizarren Blüten des amerikanischen Pornokinos der 1970er Jahre (Die läufige Leinwand; sämtliche Titel sind im Berliner Martin Schmitz Verlag erschienen) stellt diese „persönliche Reise durch das Horrorkino“ wohl sein bisheriges Magnum Opus dar. Dies liegt nicht nur am mit 400 Seiten stattlichen Umfang, sondern vor allem daran, dass ein ziemlich saftiger Batzen von Keßlers großem Herzen besonders leidenschaftlich für das Horror-Genre schlägt. Mit anderen Worten: Wer Christian Keßlers spezielle Kunst der Filmgeschichtsschreibung kennt und schätzt, hätte sich nichts inniger wünschen können als ein ganz den Mumien, Monstren und Mutationen gewidmetes Lesebuch aus seiner Feder (mit „Das wilde Auge“ unternahm er 1997 einen Streifzug durch den italienischen Horrorfilm, der aber schon lange vergriffen ist). Endlich betritt Roland Deschain den Dunklen Turm!


„Scanners“

Die acht Abschnitte bzw. Großkapitel folgen grundsätzlich der Archetypologie jener Kreaturen und Unholde, um deren beunruhigend deviantes bis grässliches Erscheinungsbild, Treiben und Wirken sich filmischer Horror klassischerweise dreht: Geister, Vampire, Werwölfe, Mumien, Zombies, Hexen, irre Wissenschaftler, irre Killer. Das verschafft sicheren Grund unter den Füßen, der dann jeweils chronologisch durchmessen wird und immer wieder in sumpfige Randzonen (in denen es monsterpersonell weniger klassisch-generisch zugeht) führt. „Trollhunter“ (2010) hat im Kontext der Found-Footage-Erzählmethode seinen Platz bei den Geistern. Der Zombie-Film gehört zu den Subgenres, bei denen das Kameraauge weit aufgerissen wird, wenn es um körperliche Drastik und Deutlichkeit geht, weshalb an entsprechendem Ort etwa Peter Jacksons matschiger Alien-Slapstick „Bad Taste“ (1987) auftaucht, welcher die Splatter-Ästhetik ins „Cartoon-Gemetzel“ wendet. In unmittelbarer Nachbarschaft der Hexen lebt sündiger Höllenzauber wie Clive Barkers „Hellraiser“ (1987) oder Michele Soavis schwarzromantische Grabstein-Groteske „DellaMorte DellaMore“ (1994). Von H.P. Lovecraft Adaptiertes und Inspiriertes findet sich ebenso unter den verrückten Wissenschaftlern wie das Œuvre des konsequenten kanadischen Grenzgängers David Cronenberg, dessen Science-Fiction-Body-Horror wie „Scanners – Ihre Gedanken können töten“ (1981), „Videodrome“ (1983), „Die Fliege“ (1986) oder „eXistenZ“ (1999) sich der „artige[n] Befolgung der Genreregeln“ entschieden widersetzt. Den so folgerichtigen wie anrührenden Epilog des Buchs bildet die Würdigung von Tod Brownings „Freaks“ (1932) als ultimativer, weil das Monströse humanistisch ins Recht setzender Horrorfilm, der nahelegt, „dass die scheinbar Normalen die wahren Monster sein können.“ Stimmiger hätte Christian Keßler dieses voluminöse Dokument seiner Liebe zum Genre nicht zum Abschluss bringen können.


„Planet der Vampire“; auch großes Bild ganz oben

„Endstation Gänsehaut“ wird als „persönliche Reise“ ausgewiesen. Das Persönliche darf hier allerdings nicht als Fürsprache oder Synonym einer handfeste Bewertungskriterien nivellierenden Meinungs- oder Geschmackswillkür (Wat den eenen sin Uhl, is den annern sin Nachtigall) verstanden werden. Vielmehr setzt es ohne geringsten autoritären Habitus die Tonart der eigenen Stimme, die einlädt, ein individuelles und doch so populäres Steckenpferd kunstvoll mitzureiten, als Kür, mit wohlwollender Offenheit sowie der im Vorwort angekündigten Absicht, überwiegend „das Preisenswerte [zu] preisen“ und den dummen Unfug nicht als solchen zu würdigen, sondern schlicht zu beschweigen. Der entspannte Ton verschleiert dabei keineswegs, mit was für sauberen Kategorien gearbeitet wird. Aber es klingt eben immer warm-erzählerisch statt kühl-analytisch, wenn Keßler zum Beispiel über Mario Bavas als knalliges „Spielzeugwelt-Zelluloidgedicht“ daherkommende Weltraum-Grusel-Oper „Planet der Vampire“ von 1965 schreibt, diese „Zauberwelt [gleiche] einem intergalaktischen Alpdruck, der nicht aus den Fernen des Weltalls zu kommen scheint, sondern aus der tiefsten Nacht im Inneren des Menschen.“ Der Clou dieser Horrorkino-Annäherung besteht gewissermaßen darin, dass man sich kaum eine zärtlichere Weise vorstellen kann, in der über Filme gesprochen wird, die – zumindest auf den ersten Blick – wenig Zartes, sondern Derbes und Grässliches in Erscheinung treten lassen. Das Buch und sein Autor bestätigen die These Hans Schifferles: „Horrorfilme machen sensibel, nie und nimmer verrohen sie, denn sie handeln von Differenzierungen, Relationen und Feinheiten.“

Inzwischen wird auch im deutschsprachigen Raum nicht selten und viel Lesenswertes zum Thema publiziert, aber „Endstation Gänsehaut“ bewegt sich, nicht zuletzt dank des schieren, großzügig mit Plakatmotiven aus aller Welt illustrierten und per Titel-Index erschließbaren Materialreichtums, eindeutig in der Standardwerks-Klasse. Das Standardwerk ist nach der Gelehrtheit also der zweite Erkennungswert mit staubig-akademischer Aura, dessen Maßgaben Christian Keßler auf gründlich entstaubende und eigenwillige Art erfüllt. Mehr lehrreicher, lustweckender und anmutiger Stoff zum Kino des Schreckens ist hierzulande zwischen zwei Buchdeckeln nicht zu haben.

Christian Keßler: Endstation Gänsehaut. Eine persönliche Reise durch das Horrorkino • Martin Schmitz Verlag, Berlin 2018 • Hardcover • 400 Seiten • € 29,80

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