Krrrcchhh…krz…krz…tzzzz…fiep…
Japanoise für Einsteiger: Von Italien nach Nippon
So ziemlich jeder hat eine klare Vorstellung, wie Musik klingt. Die allermeisten dürften unter Musik wohl einfach unterschiedliche Klänge verstehen, die zu einem harmonischen Gesamtkonstrukt zusammengefügt wurden.
Oder anders, simpler: Jedem ist sofort klar, dass auf einem Konzert Musik zu hören ist, eine Baustelle aber nur Lärm verursacht.
Die Frage, was Musik ist oder nicht, ist uralt, es gab in den vergangenen Jahrhunderten unzählige Versuche von Begriffsbestimmungen, aber keine allein gültige Definition.
Vielleicht also wird auf einer Baustelle ja doch musiziert?
Das ist durchaus möglich!
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Zunächst ein Blick zurück zum Anfang des 20. Jahrhunderts und zwar zum Futurismus, einer aus Italien stammenden und von Filippo Tommaso Marinetti gegründeten Kunstbewegung, die den Anspruch erhob, eine neue Kultur zu begründen. Literatur, Malerei, Plastik, Theater und eben Musik sollten komplett neu erschaffen werden.
Die futuristische Musik ließ dabei althergebrachte Traditionen hinter sich und setzte auf experimentelle Töne, die von Maschinen inspiriert wurden. Ein wichtiger Impulsgeber wurde Francesco Balilla Pratella, der sich der futuristischen Bewegung 1910 anschloss und drei Schriften zur futuristischen Musik veröffentlichte, die 1912 gesammelt im „Manifest der futuristischen Musiker“ veröffentlicht wurden. Darin machte er sich unter anderem für Atonalität und irreguläre Rhythmik in der Musik stark und plädierte für die Abschaffung von klassischen Harmonieregeln.
Pratellas Manifest inspirierte wiederum Luigi Russolo zu seinem futuristische Manifest „Die Kunst der Geräusche“, das dafür plädierte Geräusche für Musik zu verwenden, da sich laut ihm das menschliche Ohr mittlerweile an die Geschwindigkeit, Energie und an den Lärm des modernen Industriezeitalters gewöhnt hatte.
Diese neue Palette an Tönen würde aber eine neue Art des Komponierens erfordern. Er prognostizierte, dass die Elektronik und andere Technologien zukünftigen Musikern die Möglichkeiten geben werde, die heutigen Orchester-Limitierungen zu umgehen und die unendliche Klangvielfalt entsprechend zu nutzen. Er hatte mit seinen regelbrechenden Vorstellungen den Grundstein für das Musik-Genre Noise gelegt, das sich allerdings erst in den 1970er-Jahren bilden sollte.
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Den Anfang machte der amerikanische Songwriter, Gitarristen und Sänger Lou Reed. Reed veröffentlichte 1975 „Metal Machine Music“ und löste damit fast nur Unverständnis bei der Musikpresse aus. Das Album besteht aus reinstem Krach, der in vier Abschnitte à 16 Minuten gegliedert ist: keine Melodie, kein Rhythmus, kein Gesang. Zu hören sind nur mit Gitarren erzeugte Rückkopplungen, Verzerrungen, Rauschen und ein tinnitusartiges Fiepen.
„Metal Machine Music“ entwickelte sich dank der Kontroverse zu einem – bis heute umstrittenen – Semi-Klassiker. Im Laufe der Jahre wurden rund 100.000 Einheiten abgesetzt. Reeds radikales Experimentalalbum war übrigens nicht nur die Initialzündung für das Noise-Genre, sondern hinterließ in der Popkultur Spuren: So wurde die Sprache der Alienrasse Breen aus den Serien „Raumschiff Enterprise: Das nächste Jahrhundert“ und „Star Trek: Deep Space Nine“ von Reeds Album inspiriert.
Beim Begriff Japanoise – ein Kofferwort aus „japanese“ und „noise“ – handelt es sich um kein Subgenre, wie durch den Begriff impliziert und fälschlicherweise gerne angenommen wird, sondern lediglich um eine Bezeichnung für Noise aus Japan. Ein frühes Beispiel findet sich mit den 1960 veröffentlichten Aufnahmen „Automatism“ und „Object“ der experimentellen Improvisationsgruppe Ongaku. In diesen wurde der Klang traditioneller Musikinstrumente mit den Geräuschen von einem Staubsauger, einem Radio, einem Ölfass, einer Puppe und von Geschirr vermischt. Des Weiteren wurde die Geschwindigkeit der Aufnahme manipuliert, außerdem fügte man Verzerrungen hinzu.
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Doch erst Ende der 1970er-Jahre ging’s so richtig los. Masami Akita, ein Ex-Redakteur und Herausgeber diverser Magazine, nahm Lou Reeds Album als Ausgangspunkt, verzichtete aber auf von Gitarren erzeugte Feedbacks und produzierte mit Hilfe von Geräuschen, die einfach mit Hilfe der unmittelbaren Umgebung wie zum Beispiel dem Fußboden erzeugt und mit Effektgeräten bearbeitet wurden, einen noch abstrakteren Noise-Sound, den er unter dem Namen Merzbow auf seinem eigenen Kassetten-Label „Lowest Music & Arts“ veröffentlichte.
Akita, der seine ganz eigene Auffassung von Musik über die Jahre konstant weiterentwickelte oder komplett veränderte, wurde dank eines Auftritts bei einem Jazz-Festival in der damaligen Sowjetunion ab 1988 außerhalb Japans bekannt – was bemerkenswert ist, denn japanische Musiker schafften es damals nur selten ein Publikum außerhalb der Landesgrenzen zu erreichen. Merzbow galt bald weltweit als Aushängeschild für Noise und machte immer wieder durch extravagante Veröffentlichungen auf sich aufmerksam. So gab es zum Beispiel vom 1994 erschienen Album „Noiseembryo“ eine wahnwitzige Sonderedition: Es wurde ein Mercedes 230 angeboten, dessen CD-Player so manipuliert wurde, dass er beim Anlassen des Motors anfing das Album abzuspielen, allerdings nicht mehr ausgestellt werden konnte.
Merzbows Erfolg war dafür mitverantwortlich, dass weitere in Erscheinung getretene, innerhalb des Spektrums übrigens sehr differierende Musiker und Bands wie Masonna, Hijokaidan, Incapacitants, C.C.C.C. oder Gerogerigegege internationale Bekanntheit erlangten und größten Einfluss auf das aufkommende Genre ausübten. Hilfreich waren die Bühnenauftritte – so unterschiedlich die Musik ist, eins haben die meisten Künstler gemeinsam, nämlich einen Hang zu exzessiven Shows und da waren die japanischen Krachmacher praktisch konkurrenzlos. So masturbierte der Frontmann von Gerogerigegege zum Beispiel bei fast jeden Auftritt mit einem Staubsauger oder schmissen C.C.C.C mit Urin gefüllte Plastikbeutel ins Publikum. Besonders hervor tat sich das Duo Hanatarash, das einen Ruf als gefährlichste Band aller Zeiten hat. Ein Ruf für den besonders ein Auftritt im Jahr 1985 verantwortlich war, bei dem einer der beiden Musiker mit einem Minibagger durch eine Wand des Veranstaltungssaals fuhr und die Bühne abriss. Im Anschluss wollte er einen brennenden Molotowcocktail ins Publikum schmeißen, wurde aber aufgehalten. Es wundert nicht wirklich, dass nach einer Weile kein Veranstalter Hanatarash mehr buchen wollte.
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Um abschließend auf die Frage zurückzukommen, ob auf einer Baustelle nicht doch musiziert wird: Letztendlich liegt es immer an der auditiven Wahrnehmung der Zuhörer und an der Bereitschaft Hörgewohnheiten herauszufordern, mit Klängen mal „zu kämpfen“.
Noise aus Japan bietet sich für einen Kampf insbesondere an, da es einen ganzen Ozean an äußerst vielfältigen Veröffentlichungen gibt, die Chance, dass man etwas für sich findet, ist recht groß.
Natürlich ist eine Auseinandersetzung mit dieser Musik erstmal anstrengend, wer aber den Kampf gewinnt, wird feststellen, dass Noise ein unheimlich offener Stil ist, mit dem man äußerst unterschiedliche Hörerfahrungen macht und mit dem man immer wieder etwas Neues entdecken kann. Zudem kann Noise-Musik durchaus auch für Entspannung sorgen: Es gibt hier keine Ruhe vor dem Sturm, man findet die Stille mittendrin.
Und so wird man zukünftig vielleicht Baustellen-Lärm mit einem entspannten Lächeln wahrnehmen, während alle um einen herum nach wie vor tierisch genervt sind!
Abb. ganz oben: Hanatarash, Foto von Gin Satoh
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