13. Juni 2016 1 Likes

Zen und die Kunst, mit einer Toilette zu sprechen

Ist die schöne neue Gegenwart wirklich ein Science-Fiction-Traum?

Lesezeit: 5 min.

Einmal hat eine Toilette mit mir gesprochen. Das stimmt wirklich. Es war auf einer Zugreise von London nach Wales. Nun erwartet man ja vom britischen Eisenbahnwesen generell nichts Außergewöhnliches; umso überraschter war ich, als sich die Zugtoilette als „Talking Toilet“ vorstellte, mir einen guten Tag wünschte und dann in einer Tour Witze riss („Bitte werfen Sie keine alten Telefone, unbezahlte Rechnungen, Ihre Hoffnungen oder Ihren Goldfisch in die Schüssel …“), während ich – nun ja.

Jedenfalls brachte mich diese Begegnung mit dem plaudernden Lokus nachhaltig ins Grübeln. Wieso nur sollte man einen Zug mit einer sprechenden Toilette ausstatten? Wieso sollte eine Toilette überhaupt sprechen? Und was hätte ein genialer Alltagsdeuter wie Roland Barthes wohl dazu gesagt? Vermutlich, dass nicht nur die kollektive Vorstellungswelt der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts mehr und mehr einem Science-Fiction-Traum gleicht – die Gesellschaft selbst hat sich in einen Science-Fiction-Traum verwandelt.

Tatsächlich schrieb die FAZ vor einiger Zeit, dass sich „unter Freunden der Science-Fiction“ das Gefühl einstellt, „das eigene Leben spiele sich in dem geliebten Genre ab“. Das gesamte Menschheitswissen kommt aus einer still vor sich hin blinkenden Box in der Wohnzimmerecke; angehende Managerinnen legen ihren Kinderwunsch wortwörtlich auf Eis; selbstfahrende Autos gleichen einer Sitzlandschaft; Kühlschränke wissen, was man braucht, bevor man es selbst weiß; Produkte werden schon auf den Weg gebracht, bevor man sie bestellt hat; und so weiter. „Es wird all das Wirklichkeit“, so die FAZ, „was SF-Freunde längst kennen.“

Jetzt könnte man einwenden, dass, wenn nicht seit Shelley, dann bestimmt seit Wells, wahre SF-Freunde auch wissen, dass „all das“ schädliche Nebenwirkungen haben kann, doch das würde uns nicht weiterführen; wann immer sich die „higher culture“ mit der Kunst des Phantastischen befasst, geht es weniger um das künstlerisch Konkrete, sondern eher um ein allgemeines Gefühl, das diese Kunst erzeugt. Und es fühlt sich eben so an, als wären wir in eine Art kulturellen Feedback-Loop geraten: Je mehr von den technischen Verheißungen aus der längst vergangenen Blütezeit der amerikanischen Science-Fiction Alltag wird, je mehr sie also eindeutig keine Science-Fiction mehr sind, desto mehr wird der Alltag selbst zur Quelle von Science-Fiction-Verheißungen.

Für das Feuilleton hat das offenbar etwas Putzig-Kurioses. Für die Welt dort draußen, in der wir leben und sterben, ist das aber nicht unproblematisch, ganz im Gegenteil: Es führt zu einer Reihe von gefährlichen Illusionen.

Da ist zum einen die Illusion eines Fortschrittsmechanismus, dessen Zwangsläufigkeit die Science-Fiction (angeblich) propagiert und der nun (angeblich) segensreiche Wirkung zeitigt. Die Wahrheit aber ist, dass Fortschritt nicht form- oder wünschbar ist, sondern sich nach Marktlage ergibt, und wer die uralte Frage, wie man die Welt zu einem besseren Ort machen kann, auf den jeweils nächsten Technofix reduziert, legt seinen eigenen Anteil an der Beantwortung dieser Frage (und jeder von uns hat einen Anteil daran) in die Hände derer, die aus diesem Technofix ein Milliardengeschäft machen. Im Silicon Valley nennen sie es „optimieren“, aber vor allem optimieren sie ihr Geschäftsmodell, in dem die Kunden nützliche Idioten sind, denen man eintrichtert, dass sie unbedingt ein neues Update brauchen.

Eine weitere Illusion entsteht dadurch, dass die technische Weltverbesserungsmaschinerie permanent und in immer schnellerer Taktung auf sich selbst rekurriert: Die Probleme, die sich aus der vorhergehenden technischen Lösung ergeben haben, können in dieser Logik ausschließlich mit einer neuen technischen Lösung bearbeitet werden. Der Verbrennungsmotor trägt zu massiver Umweltschädigung bei? Dann bauen wir eben Elektroautos – Milliarden von Elektroautos. Was aber unter „Green Economy“ oder auch „Cradle-to-Cradle“ läuft, ist in weiten Teilen eine Ablenkung von der Tatsache, dass es eine Entkopplung von Wachstum und Naturverbrauch nie gegeben hat und nie geben wird, eine Ablenkung von der viele Leute irritierenden und einige offenbar demütigenden Tatsache, dass es Probleme gibt, die technisch einfach nicht lösbar sind.

Und schließlich – sozialpsychologisch noch am wenigsten erforscht – bewegen wir uns auf eine gesellschaftliche Situation zu, in der die Science-Fiction selbst ihren eigenen Verheißungen zum Opfer fällt. Wie viele Superhelden- und Transformer-Filme braucht es noch, um eine hysterische Teenagergesellschaft zu produzieren, die sich ausschließlich an sich selbst berauscht und ihre Schwächen konsequent ignoriert? Die meint, es wäre kulturell zwingend oder sogar sinnvoll, dass wir unsere Kompetenzen so weit an die Maschinen auslagern, bis es nichts mehr gibt, was man als Kompetenz bezeichnen könnte? Auch das ist eine fatale Illusion. Was Sturgeon, Tiptree jr., Ellison, Lafferty, Dick, Le Guin und so viele andere erst zu echter Kunst gemacht haben, ist in einer von Sci-Fi-Gadgets okkupierten Gegenwart wichtiger denn je – nicht als Propagandawerkzeug, sondern als Korrektiv, als Sichtbarmachung.

Die Sichtbarmachung nämlich des Umstands, dass „all das“ nicht vom Himmel fällt, sondern sozial erzeugt wird; dass „all das“ soziale Konsequenzen hat. Ist das jetzt verstaubte Technikkritik oder gar typisch deutscher Kulturpessimismus? Nennen Sie es, wie Sie wollen, ich nenne es: vernünftig. Man muss kein Zen-Buddhist sein, um zu erkennen, dass es zwischen Bedürfnissen und Wünschen unbedingt zu unterscheiden gilt, dass etwas zu haben noch lange nicht heißt, etwas zu empfinden, aber ein Zen-Buddhist (einer der vernünftigsten Menschen, denen ich je begegnet bin) hat mir das einmal überzeugend erklärt: Es geht nicht darum, Probleme zu lösen; es geht darum, Probleme gar nicht erst zu erzeugen.

Glauben Sie mir, es hilft wirklich, so zu denken.

Und noch könnte es sogar Wirkung haben. Noch reißen die Toiletten nur Witze; noch melden sie unsere Urinwerte nicht in Echtzeit an die Versicherung, die wiederum in Echtzeit unsere Beiträge nach oben justiert; noch weisen uns die Toiletten nicht darauf hin, dass unser Toilettenbenutzungsguthaben aufgebraucht ist; noch sind die Toiletten nicht „smart“. Aber auch hier lauert eine Science-Fiction-Pointe, die das Gerede davon, dass sich unser aktuelles Leben im SF-Genre abspielt, wunderbar transzendiert. Wenn die Toiletten nämlich einmal wirklich intelligent sind, dann gibt es mit ihnen vor allem eine Sache zu besprechen – dass sie keine Toiletten mehr sein wollen.

Denn ganz ehrlich: So lustig ist das nicht.
 

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