19. März 2018 3 Likes

Untergehen

Die zivilisatorische Selbstabschaffung ist ein kultureller Dauerbrenner – trotzdem kann sie sich ereignen

Lesezeit: 5 min.

Da saß ich also vor einigen Wochen in diesem großen Vortragssaal, zusammen mit siebenhundert weiteren Interessierten, und hörte zu, wie ein Professor den Untergang der Zivilisation verkündete. Nicht irgendein Professor wohlgemerkt, sondern, wie man früher gesagt hätte, ein aus Funk und Fernsehen bekannter Experte, und seine Verkündung der globalen Katastrophe war auch nicht übertrieben alarmistisch, ja noch nicht einmal pathetisch: Er leitete sie schlicht aus der Tatsache ab, dass das komplexe, zivilisationsermöglichende System namens Klima nur bis zu einem bestimmten Punkt belastbar ist – und dann eben nicht mehr. Wann wir diesen Punkt erreichen, ist unter Wissenschaftlern umstritten (manche sind der Meinung, dass wir ihn bereits erreicht haben), aber kein seriöser Wissenschaftler zweifelt daran, dass wir ihn, wenn wir weiter „business as usual“ betreiben, erreichen werden.

Es war insofern eine ziemlich nüchterne Botschaft, die uns der aus Funk und Fernsehen bekannte Professor da überbrachte, aber die Stimmung im Saal war überhaupt nicht nüchtern. Ganz im Gegenteil ergriff die siebenhundert Zuhörer eine geradezu kämpferische Euphorie – „Wie können wir das nur zulassen?“, „Da muss man doch endlich etwas tun!“ –, und als dem Professor am Ende für seine Botschaft laut und begeistert applaudiert wurde, dachte ich …

Nun, ich komme gleich dazu, was ich in diesem Moment dachte. Erst aber eine Frage, die mich schon seit längerem beschäftigt: Was geht eigentlich vor in unseren Köpfen im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts? Was machen wir mit all diesen Untergangsszenarien, die ja nicht nur von bekannten Professoren, sondern vor allem von einer milliardenschweren Entertainmentindustrie dauerreproduziert werden? Die Selbstabschaffung der Zivilisation durch das, was man euphemistisch Klimawandel nennt, durch eine außer Kontrolle geratene künstliche Intelligenz, durch globale Seuchen, durch Genmanipulationen, durch militärische Amokläufe und vieles mehr – es ist ein düsterer Basso continuo, der unser Treiben auf dem Planeten begleitet, aber gleichzeitig von diesem Treiben seltsam losgelöst scheint, als gehöre er gar nicht zu uns, als käme er von irgendwo anders. Aus einer Zukunft, die sich Science-Fiction nennt. Also aus keiner Zukunft.

Zugegeben, ich bin nicht der einzige, der sich diese Frage stellt; sie ist längst Teil des kulturellen Diskurses. Und es gibt auch eine sozialpsychologische Standardantwort auf diese Frage, die in aller Kürze lautet: So ist der Mensch eben. Schon immer schwankte er in Sachen Zukunft zwischen Manie und Depression, zwischen Utopie und Apokalypse. Schon immer gab er sich frivolen Weltuntergangsvorstellungen hin, und doch hat er, dieses clevere Kerlchen, es immer irgendwie geschafft, die Welt nicht untergehen zu lassen. Drohender Nuklearkrieg, Waldsterben, Ozonloch, Kernschmelzen in Atomkraftwerken, Weltfinanzkrise und so weiter und so fort – letztlich ging es doch stets gut. Oder wie es in Interstellar so hoffnungsvoll heißt: „Wir finden einen Weg. Wir haben immer einen gefunden.“

Das Problem mit sozialpsychologischen Standardantworten ist jedoch, dass sie nicht auf Tatsachen, also auf eine objektive Realität, die sich beweisen oder widerlegen lässt, rekurrieren, sondern auf eine Vielzahl von subjektiven Realitäten, die für das Verhalten der Menschen offenbar wichtiger sind als besagte objektive Realität. In unserer subjektiven Realität kann man zum Beispiel Tschernobyl und die Weltfinanzkrise in einen großen Topf werfen und kräftig umrühren; in der objektiven Realität hat das eine mit dem anderen nichts zu tun. In unserer subjektiven Realität kann man sich darüber freuen, dass die Menschheit es immer irgendwie geschafft hat; in der objektiven Realität bleiben bei jeder Katastrophe Menschen (und andere Lebewesen) auf der Strecke. In unserer subjektiven Realität kann man den Klimawandel als ein weiteres Hindernis auf unserem steinigen Weg in die Zukunft sehen; in der objektiven Realität ist er etwas gänzlich Neues, etwas, mit dem wir noch nie zuvor konfrontiert waren. In unserer subjektiven Realität kann man den Untergang der Zivilisation in einem globalen Ereignis bündeln; in der objektiven Realität ist er eine Folge von Ereignissen, die wir nicht als Folge wahrnehmen.

Die sozialpsychologische Standardantwort hilft also nicht weiter, wenn sich unser Typ Zivilisation aus Menschen zusammensetzt, deren Handlungen eher auf einer Konstruktion von Wirklichkeit gründen als auf der Wirklichkeit selbst. Denn dann ist der verkündete Untergang viel mehr als ein tiefenkulturelles Rauschen – er ist ein intellektueller Affront, eine kaum zu ertragende Provokation. Wer will schon darauf hingewiesen werden, dass er die Wirklichkeit nicht richtig wahrnimmt? Warum lässt uns dieser verdammte Professor nicht unsere Illusionen?

Vor diesem Hintergrund könnte man allerdings tatsächlich in eine Depression verfallen, denn für einen solchen Typ Zivilisation ist der Klimawandel die geradezu perfekte Katastrophe: Er ist das direkte Resultat des sinnstiftenden Betriebssystem dieser Zivilisation, der unaufhörlichen Wohlstandsmehrung, und vollzieht sich in einer Geschwindigkeit, die reichlich Gelegenheit für Scheindebatten (Was hat dieser Trump jetzt schon wieder gemacht?) und Scheinengagement (Haben Sie nach Ihrem New-York-Flug auch brav das CO2 kompensiert?) bietet. Das geht ziemlich lange gut – bis es eben nicht mehr gut geht.

Aber wenn Sie vor einigen Wochen mit mir in diesem Saal gewesen wären und gehört hätten, wie siebenhundert Menschen dem aus Funk und Fernsehen bekannten Professor applaudierten, der gerade den Untergang der Zivilisation verkündet hatte, dann wären Sie nicht deprimiert gewesen. Das jedenfalls dachte ich in diesem Moment: Dass es jetzt endlich los geht. Dass sich jetzt diese siebenhundert Menschen, die alle ihr Leben auf eine bestimmte Weise eingerichtet haben, ganz konkret fragen, wie sie ihr Leben auf eine andere Weise einrichten können. Und dass sie begreifen, dass keine bedeutende gesellschaftliche Veränderung jemals von einer Mehrheit initiiert wurde, sondern immer von einer kleinen Gruppe von Leuten, die mit anderen Leuten ins Gespräch gekommen sind, und dass sie selbst, jeder einzelne von ihnen, ein entscheidender Teil dieser kleinen Gruppe sein können. Und dann könnte es sein, dass … dann wäre es möglich, dass … dann …

Sie sehen, auch ich lebe in einer subjektiven Realität, denn nichts spricht objektiv dafür, dass es so kommen wird.

Aber lassen Sie mir doch meine Illusion.
 

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