„Ich musste meine KI wie eine Person behandeln.“
Im Gespräch mit Marina Lostetter, Autorin von „Die Reise“
Die Amerikanerin Marina J. Lostetter (im Shop) veröffentlicht seit Jahren regelmäßig Science-Fiction-Kurzgeschichten in renommierten Anthologien und Magazinen, z. B. in „Orson Scott Card’s Intergalactic Medicine Show“, dem von Genre-Veteran Mike Resnick herausgegebenen „Galaxy’s Edge“, „Lightspeed“, „Uncanny“ oder der Franchise-Anthologie „Aliens: Bug Hunt“. Mit „Noumenon“ alias „Die Reise“ legte Lostetter, die hier regelmäßig bloggt und die Weltenbummeln, Brettspiele und Kunst zu ihren Hobbys zählt, ihren Romaneinstand vor. Ihr Buch (Leseprobe) bietet eine bemerkenswerte, in episodenhafter Mosaikform geschriebene Geschichte über einen Konvoi aus Generationenraumschiffen, deren Mannschaft von Generation zu Generation geklont und von den Vorgängerfamilien großgezogen wird. Die mehrere tausend Jahre währende interstellare Reise der Schiffe, die von der künstlichen Intelligenz K.I.C. behütet werden, führt durch die Subdimension zum Stern LQ Pyxidis, der ein astronomisches Phänomen darstellt und ein galaktisches Geheimnis birgt – und nach Aufständen, Revolutionen und Wundern wieder zurück zu einer Erde, die kaum wiederzuerkennen ist. Im Interview spricht Marina Lostetter, die aus Oregon stammt und derzeit in Arkansas lebt, über ihr vielversprechendes Romandebüt, Rechte für Klone und künstliche Intelligenz.
Hallo Marina. Wie begann deine Reise in die unendlichen Weiten der Science-Fiction?
Meine Familie führte mich bereits in ganz jungen Jahren in die Science-Fiction und die Fantasy ein. Meine Mom las meinem Bruder und mir Bücher wie „20.000 Meilen unter dem Meer“ und die „Narnia“-Serie vor, bevor wir selbst lesen lernten. Als ich in der vierten Klasse war, gab mir mein Dad „Der Hobbit“ zu lesen, und nicht lange danach entdeckte ich Madeleine L’Engle und verschlang „Das Zeiträtsel“ und seine Fortsetzungen. Seit dem ist meine Liebe für das Genre nur gewachsen.
Warst du dir von Anfang an sicher, dass dein Romandebüt ein Mosaikroman werden würde, dessen episodenhafte Kapitel über den Generationenraumschiff-Konvoi der Klone sich wie Kurzgeschichten lesen?
„Die Reise“ begann als eine Kurzgeschichte, in der die Ankunft des Konvois bei LQ Pyxidis sowie seine Rückkehr viele Jahrhunderte später abgedeckt waren. Ich reichte sie bei einem Kurzgeschichtenwettbewerb ein und landete unter den Finalisten, gewann jedoch nicht. Mitglieder meiner Familie ermutigten mich, die Geschichte zu erweitern, und so entschied ich mich dafür, mit dem Anfang der Mission zu beginnen und mich von dort aus weiter voran zu arbeiten. Die Zeitlinie, die ich abdecken wollte, bot sich für die Mosaikform an, und damals fühlte ich mich sehr wohl damit, Kurzgeschichten zu schreiben.
Hattest du Sorge, dass diese Struktur zu nichtlinear sein könnte für einen Debütroman?
Ich habe schon vorher ähnlich strukturierte Romane gelesen, darunter Asimovs „Foundation“-Serie (im Shop), daher wusste ich, dass es nicht komplett verboten [Red.: auch im Original Deutsch] war, aber ich machte mir ein paar Sorgen, dass es zu weit vom Standard entfernt sein könnte für jemanden, der das Risiko mit einem Romanerstling einging. Ich bin äußerst froh darüber, dass meine Zweifel unbegründet waren!
Unfaire Frage: Welches Kapitel hast du am liebsten geschrieben, und welches war am schwierigsten?
Ich weiß nicht, ob ich ein Lieblingskapitel habe, aber ich habe es besonders gemocht, die Szenen zu schreiben, in denen die verschiedenen Versionen von K.I.C. und Jamal interagieren. Das schwierigste Kapitel war mit Abstand Kapitel sieben, „K.I.C.: Fehlklonung“. Ich muss ein Dutzend verschiedener Fassungen davon geschrieben haben – genug Material für einen eigenen Roman –, bevor ich bei der jetzigen Version angelangte. Es ist das düsterte Kapitel, und ich scheute vor der Grausamkeit darin zurück. Darüber hinaus denke ich, dass es einer der komplizierteren Handlungsfäden ist, sodass es viele Überarbeitungen brauchte, um sicher zu stellen, dass alle Teile zusammenpassen.
K.I.C., die künstliche Intelligenz des Generationenraumschiff-Konvois, ist in vielen Kapiteln prominent vertreten, manchmal sogar als Erzähler. Wie hast du dich darauf vorbereitet, eine KI als Perspektive und Protagonisten zu haben?
Ich recherchierte die aktuellen Grundlagen maschinellen Lernens, doch in Wahrheit besitzt reale künstliche Intelligenz momentan bei Weitem nicht die Fähigkeiten unserer liebsten fiktiven Roboter. Am Ende musste ich meine KI wirklich mehr wie eine Person als wie eine Maschine behandeln. Das bedeutete, dass ich von gegenwärtiger KI extrapolierte, was ich konnte, mich jedoch zwangsläufig in derselben Weise auf K.I.C. als Charakter fokussieren musste, wie ich das bei jeder biologischen Figur getan hätte.
In „Die Reise“ sind die Schiffe mit Klon-Erblinien bemannt. Würdest du deine genetische Linie klonen lassen, wenn das möglich wäre?
Oh, das ist eine schwierige Frage. Ich hätte nichts dagegen, wenn jemand meinen genetischen Zwilling erschaffen würde, doch ich würde wollen, dass die Klone dieselben Rechte haben wie ich – damit meine ich, dass ich wollte, dass sie die Möglichkeit und die Wahl haben, mit ihrem Leben zu machen, was sie möchten. Und ein Großteil der Klone in „Die Reise“ erhalten eben nicht diese Chance.
Du hast eine „Aliens“-Kurzgeschichte mit Genre-Legende Mike Resnick geschrieben. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Mike Resnick ist ein guter Mentor. Er ermutigt neue Autoren und verschafft ihnen Gelegenheiten, wann immer er kann. Man fragte ihn, ob er eine Geschichte für die Anthologie „Aliens: Bug Hunt“ schreiben könnte, doch hat er – wie er selbst sofort zugeben würde – nur einmal den ersten Film gesehen und wusste nichts vom Rest der Serie. Also erkundigte er sich beim Herausgeber, ob er einen Co-Autor mit an Bord holen dürfe. Glücklicherweise erzählte ihm ein Freund, dass ich ein großer Fan des „Aliens“-Franchise bin, und er fragte mich, ob ich Interesse hätte. Mike war während des Pitch-Prozesses eine große Hilfe. Ich hatte bereits Tie-Ins für ein Videogame und ein Shared Universe verfasst, aber nie an etwas dermaßen bekannten gearbeitet. Daher war es großartig, zu sehen, wie das Hin und Her des Absegnens und Ablehnens lief. Sobald unser Konzept durchgewinkt war, schrieb ich die Geschichte, und Mike optimierte sie hinterher. Es war ein großer Spaß, und ich würde es ohne zu Zögern wieder tun.
Für das „Nightmare Magazine“ hast du viele bildende Fantastik-Künstler interviewt. Hat das deine Art, als Autorin Welten und Visionen zu beschreiben, beeinflusst?
Ich liebe die bildenden Künste und versuche mich hobbymäßig selbst ein wenig darin. Kunst kann eine grandiose Inspiration für Autoren sein. Die Interviewten erlaubten mir, einen Blick in ihre Arbeitswelt als professionelle Künstler – im Vergleich zum literarischen Profi – zu werfen und ich bekam einen Eindruck davon, wo wir die Dinge gleich und wo verschieden angehen. Eine Sache habe ich generell von kreativen Menschen jeder Couleur gelernt: Seinem Handwerk nachgehen, so oft man kann, und das mit einem Auge darauf, dass man sich verbessert, ist die eine Übereinstimmung in ansonsten extrem unterschiedlichen Erfolgsgeschichten.
Das wäre schon ein schönes Schlusswort, aber gibt es noch etwas, das du deinen deutschen Lesern sagen möchtest?
Ich hoffe, dass euch „Die Reise“ gefällt, und dass ihr andere Übersetzungen von Irene Holicki heraussucht, mit der zusammenzuarbeiten wundervoll war!
Marina Lostetter: Die Reise • Aus dem Englischen von Irene Holicki • Heyne, München 2019 • 558 Seiten • E-Book: 9,99 € (im Shop)
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