Qualität und Quantität
Was wir aus dem Scheitern der Corona-Warn-Apps lernen können
Letzten Sommer herrschte während der ersten Welle der Corona-Pandemie Chaos in den USA. Da die Regierung in Washington jegliche Führungsqualität vermissen ließ, waren die einzelnen Bundesstaaten auf sich allein gestellt, und von denen wiederum überließen viele wichtige Entscheidungen zur öffentlichen Gesundheit den Bezirken, Städten oder Institutionen wie etwa den Universitäten.
Ohne verbindliche Richtlinien mussten viele improvisieren. Um möglichst schnell wieder sicher öffnen zu können, ließ man sich allzu oft nicht von Vernunft, sondern von unbegründeten Hoffnungen leiten. Außerdem ermöglichte es die neuartige Bedrohung durch das Virus in Kombination mit der chaotischen Reaktion darauf allen möglichen „Fachleuten“, ihre Meinung zur optimalen Balance zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu äußern.
So wurde die University of Illinois in Urbana-Champaign zum Epizentrum eines schweren Corona-Ausbruchs, und die Hochschule beendete ihren Lockdown schließlich mit der zuversichtlich vorgetragenen Prognose, dass es durch eine Reihe von Maßnahmen – Abstand, Maske, Tests, Warn-App – nicht mehr als hundert Corona-Fälle gleichzeitig und nicht mehr als fünfhundert während des gesamten Semesters geben würde. Schon nach wenigen Wochen zählte man siebenhundertachtzig Fälle auf dem Campus. Die Universität musste wieder schließen.
Das Hygienekonzept der University of Illinois basierte auf dem Modell zweier Physiker, die sich auf dem Gebiet der Epidemiologie versucht hatten - eine Disziplin, für die sie nur abfällige Bemerkungen übrig hatten: Modelle zwischenmenschlicher Interaktion zu erstellen, so sagten sie der Presse, hätte nicht den „intellektuellen Reiz“ ihrer sonstigen Arbeit.
Weshalb stellte sich dieses Modell als völlig unbrauchbar heraus? Wie konnte es geschehen, dass das Worst-Case-Szenario von hundert Fällen praktisch sofort überschritten wurde und insgesamt siebenhundertachtzig Fälle gezählt wurden? Ganz einfach: Das Modell zog nicht in Betracht, dass sich die Studenten auf Partys betrinken und gegenseitig ins Gesicht atmen würden.
Jeder, der im Gesundheitswesen forscht, weiß um die Wichtigkeit qualitativer Faktoren. Selbst so scheinbar eindeutige, quantitative Größen wie die berüchtigte Basisreproduktionszahl R0 – die Ausbreitungsrate eines Erregers – hängen von qualitativen Faktoren ab, die sich einfach nicht berechnen lassen. Bei der Bestimmung der Reproduktionszahl geht es nicht allein um die Anzahl der Viren, die man einatmen muss, um sich anzustecken, sondern etwa auch darum, ob die Infizierten den Gesundheitsbehörden so weit vertrauen, dass sie ihnen die Identität derjenigen Personen verraten, zu denen sie Kontakt hatten.
Mathematische Modelle dagegen arbeiten ausschließlich mit quantitativen Faktoren. Um mit qualitativen Größen Berechnungen anstellen zu können, müssen diese quantifiziert, also in numerische Werte umgewandelt werden. Auch dieser Prozess ist qualitativ, da es auf Fragen wie „Tut es sehr weh?“, „Wie intensiv nehmen Sie diesen Blauton wahr?“ oder „Vertrauen Sie der Seuchenschutzbehörde?“ keine eindeutigen Antworten gibt.
Quantitative Wissenschaften – Physik, Mathematik und (ganz besonders) Informatik – geben sich oft den Anschein der Objektivität. Tatsächlich messen sie sehr präzise, was präzise gemessen werden kann. Allerdings nehmen sie auch Messungen an Dingen vor, die nicht gemessen werden können, indem sie alles, was man nicht mathematisch berechnen kann, ignorieren.
Das ist wie in dem Witz vor dem Betrunkenen, der seinen Autoschlüssel unter einer Straßenlampe sucht, weil es dort heller ist – wenn man auf ein qualitatives Element stößt, das man nicht addieren, subtrahieren, multiplizieren oder teilen kann, wirft man es einfach in einen Ofen, bis nur noch ein quantitativer Ascherest übrig bleibt, mit dem man Berechnungen anstellen kann, und behauptet einfach, dass dabei nichts Wichtiges verloren gegangen ist.
Das ist einer der Gründe dafür, weshalb die Kontaktverfolgungs-Apps so ein Reinfall waren. Wenn jemand von einer Gesundheitsbehörde eine Kontaktverfolgung vornimmt, ruft er den Infizierten und all jene an, die möglicherweise Kontakt mit ihm hatten, spricht mit diesen Menschen, gewinnt ihr Vertrauen und kann sie sowohl nach weiteren Kontakten befragen als auch Hinweise geben, wie man verhindert, dass sich die Epidemie weiter ausbreitet. Lauter qualitative Größen.
Dagegen arbeiten die Kontaktverfolgungs-Apps, die wir alle, wie es heißt, unbedingt installieren sollten, ausschließlich nach quantitativen Methoden. Sie ermittelten lediglich, ob und wie lange sich ein leistungsschwacher Bluetooth-Sender in der Reichweite eines anderen aufhielt. Wenn sich Ihr Bluetooth-Gerät in der Nähe eines Geräts befand, dessen Besitzer positiv getestet wurde, wurden Sie gewarnt, dass sie dem Virus ausgesetzt waren.
Diese Warn-Apps sind die Asche, die übrig bleibt, wenn man Kontaktverfolgung in den quantitativen Ofen wirft. Denn ohne Kontext kann die Information, dass sich ein Gerät über einen medizinisch relevanten Zeitraum hinweg in der Nähe eines anderen Geräts befand, nur wenig zur Eindämmung der Pandemie beitragen. Es wird nicht unterschieden, ob sich die Geräte während eines Verkehrsstaus in zwei nebeneinander stehenden Autos befanden oder ob ihre Besitzer bei einer Spring-Break-Party in Fort Lauderdale geknutscht haben.
Wir wussten, wie man Apps programmiert, die darüber informieren, ob man dem Virus ausgesetzt war. Wie man eine Kontaktverfolgungs-App programmiert, wussten wir nicht – und wissen es auch heute noch nicht. Also haben wir einfach behauptet, dass der Hinweis darauf, dem Virus ausgesetzt worden zu sein, dasselbe ist wie eine Kontaktverfolgung.
Ich kann nicht dort suchen, wo ich meinen Schlüssel verloren habe, Kumpel – da ist es viel zu dunkel.
Vor vierzig Jahren kam eine Gruppe von Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern an der Universität von Chicago zu der Einsicht, dass – wenn es den Determinismus schon nicht in der natürlichen Welt gibt – wenigstens die menschliche Gesellschaft nach berechenbaren Mustern funktionieren sollte. Wenn ein Grundprinzip von Gerechtigkeit lautet, dass wir vor dem Gesetz alle gleich sind, sollte dann nicht auch bei derselben Faktenlage stets dasselbe Urteil gesprochen werden? Diese sogenannte Chicagoer Schule versuchte eine ökonomische Analyse des Rechts, bei der es darum ging, alle „politischen“ (also nicht genau definierbaren, qualitativen) Elemente der Rechtsprechung durch klare, „ökonomische“ Faktoren zu ersetzen.
Wenn also die Gesetzgebung die Gemeinnützigkeit zum Ziel hat, muss in dieser Sichtweise die „Gemeinnützigkeit“ eine bestimmbare Zahl und keine soziale Übereinkunft sein. Andernfalls könnte es passieren, dass ein Gericht die Fusion zweier großer Discounterketten unter Berufung auf das Kartellrecht untersagt, weil es ihren gesellschaftlichen Nutzen bezweifelt, während ein anderes Gericht zu dem Schluss kommt, dass die Gesellschaft durch die Fusion keinen Schaden nimmt.
Die Chicagoer Schule führte mathematisch hochkomplexe Modelle in die Wirtschaftswissenschaften ein, wobei praktischerweise nur die Anhänger der Chicagoer Schule diese Modelle gut genug verstanden, um sie zu entwickeln oder zu korrigieren. Was für das Kartellrecht zur Folge hatte, dass Monopole plötzlich „nachweislich“ und „objektiv“ dem Gemeinwohl förderlich waren, womit ihrer Genehmigung nichts mehr im Wege stand. Wenn zwei Firmen fusionieren wollten, bezahlten sie einfach einen Wirtschaftswissenschaftler der Chicagoer Schule dafür, ein Modell zu entwickeln, bei dem die Fusion weder zu Preiserhöhungen noch zu anderen negativen gesellschaftlichen Folgen führte. Und wenn dann die neu entstandene Firma die Preise erhöhen wollte, beauftragte sie einfach denselben Fachmann mit einem anderen Modell, das bewies, dass die Preissteigerungen nichts mit der „Marktmacht“ (das heißt der Monopolbildung) zu tun hatten, sondern eine Folge „exogener“ Ursachen wie gestiegenen Lohn- oder Energiekosten war.
Nur wer zur Chicagoer Schule gehörte, war qualifiziert, diese Modelle zu kommentieren. Außenstehende, die Kritik daran übten, mussten damit rechnen, von führenden Wirtschaftswissenschaftlern verlacht und nicht ernst genommen zu werden. Jeder, der es wagte, darauf hinzuweisen, dass mathematische Modelle die Nachteile von Monopolen (zum Beispiel kann eine Branche, die von wenigen Firmen beherrscht wird, Politiker durch Lobbyarbeit dazu bringen, Gesetze in ihrem Sinne zu erlassen) nur unzureichend abbildeten, wurde als weltfremd und naiv diskreditiert. Die Gesetzgebung hatte quantitativen, „ökonomischen“ Gesetzmäßigkeiten ohne Einbeziehung qualitativer, „politischer“ Faktoren zu gehorchen.
Die Chicagoer Schule zerstörte das alte Kartellrecht, das die konkreten Auswirkungen von Monopolbildungen auf den Alltag der Menschen in Betracht gezogen hatte. Das neue Kartellrecht wurde von einer Priesterkaste beherrscht, die alle Fragen mit einem Modell und den sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen beantwortete - so wie man früher einen Ochsen geschlachtet und aus seinen Eingeweiden die Zukunft vorhergesagt hatte.
Vierzig Jahre später können die Irrtümer der Chicagoer Schule nicht länger ignoriert werden. Eine Reihe sich stetig verschlimmernder Wirtschaftskrisen hat gezeigt, dass diese „Wirtschaftswissenschaft“ nichts mit Wissenschaft zu tun hat und dass ihre Modelle völlig falsche Vorhersagen liefern, was das tatsächliche Verhalten der Menschen angeht. Hinzu kommen die fatalen Auswirkungen der Kartellrechtsauslegung im Sinne der Chicagoer Schule: Ausnahmslos jeder Industriezweig wird inzwischen von einer Handvoll großer Firmen kontrolliert. Diese Firmen sind stolz auf ihre „Effizienz“, dabei plündern sie uns völlig ungeniert aus, ziehen uns über den Tisch, vergiften die Umwelt und gefährden unsere Gesundheit. Und sie bestechen Politiker jeder Couleur und Regierungen auf der ganzen Welt, um ungestraft damit davonkommen. Würden Sie mit einer neuen Boeing 747 Max fliegen, wenn deren hundertprozentige Absturzsicherheit von denselben Behörden und internationalen Kontrollgremien garantiert wird, die das schon vom Vorgängermodell behaupteten? Ich bin mir da nicht sicher.
Und wenn das nicht reicht, um das Gedankengebäude der Chicagoer Schule samt ihrem angeblich so neutralen Empirismus zum Einsturz zu bringen, vermag es vielleicht die wachsende Einsicht, dass ein Gesetz noch lange nicht gerecht ist, nur weil es neutral ist.
Nehmen wir beispielsweise die Preisabsprache, die einzige monopolistische Sünde, die die Chicagoer Schule als verdammenswert erachtet. Firmen, die untereinander die Absprache treffen, die Preise für ihre Produkte zu erhöhen, verstoßen gegen das Gesetz. Wie bereits erwähnt ist die einzige Größe, die das Kartellrecht nach Auffassung der Chicagoer Schule kennen darf, das Verbraucherinteresse - und dass eine Preiserhöhung nicht im Interesse des Verbrauchers ist, liegt ja wohl auf der Hand.
In einer objektiven Welt würden alle Preisabsprachen gleich behandelt. Als sich beispielsweise die sechs großen Verlagshäuser zusammentaten, um Amazon dazu zu zwingen, den Preis für neu erschienene Bücher auf zehn Dollar festzusetzen, haben sie vom US-Justizministerium einen schweren Rüffel kassiert.
Preisabsprachen sind jedoch nur illegal, wenn sie geheim stattfinden. Inzwischen sind aus den sechs großen Verlagshäusern vier geworden. Ein Konzern wie Penguin Random House/Simon & Schuster (eigentlich Viking-Putnam-Berkeley-Avery-Ace-Avon-Grosset & Dunlop-Playboy Press-New American Library-Dutton-Jove-Dial-Warne-Ladybird-Pelican-Hamish Hamilton-Tarcher-Bantam-Doubleday-Dell-Knopf-Harold Shaw-Multnomah-Pocket-Esquire-Allyn & Bacon-Quercus-Fearon-Janus-Penguin-Random House-Simon & Schuster) kann intern Preise festsetzen, ohne gegen das Kartellrecht zu verstoßen. Wenn der Verlagsleiter von Penguin mit dem Verlagsleiter von Random House und dem Verlagsleiter von Simon & Schuster den geheimen Plan ausheckt, die E-Book-Preise zu erhöhen, dann ist das illegal. Aber wenn der Verlagsleiter von Penguin (das zur Verlagsgruppe Penguin-Random House/Simon & Schuster gehört) mit dem Verlagsleiter von Random House (das zur Verlagsgruppe Penguin-Random House/Simon & Schuster gehört) und dem Verlagsleiter von Simon & Schuster (das zur Verlagsgruppe Penguin-Random House/Simon & Schuster gehört) eine Absprache zur Erhöhung der E-Book-Preise trifft, ist das die „innerbetriebliche Effizienzmaßnahme“ eines Monopolisten.
Noch absurder wird es, wenn es sich bei den „Firmen“, die die „Preisabsprachen“ treffen, um Angestellte handelt, die unfairerweise als „selbstständige Unternehmer“ eingestuft werden – wie etwa Fernfahrer, Uber-Fahrer oder Lieferdienstkuriere. Jeder dieser Arbeiter, der nicht nur in den USA viel weniger als den Mindestlohn verdient und weder Soziallleistungen erhält noch sonst irgendwie abgesichert ist, zählt als eigenständiges Unternehmen. Wenn sie sich zusammentun, um höhere Löhne zu fordern, treffen sie „Preisabsprachen“ und verstoßen gegen das Kartellrecht.
Wenn die wenigen alles beherrschenden Konzerne der sogenannten Gig Economy – wie Uber oder Lyft, die etliche der anderen Onlineplattformen geschluckt haben – zusammen zweihundertzwanzig Millionen Dollar dafür ausgeben, um in Kalifornien ein Gesetz durchzubringen, damit sie diese fälschlicherweise als Freiberufler bezeichneten Angestellten nicht wie Angestellte behandeln müssen, ist das kein Verstoß gegen das Kartellrecht, sondern Lobbyarbeit. Theoretisch hätten die vielen Tausend Uber-Fahrer einen Branchenverband bilden und hunderte Millionen Dollar aufbringen können, um gegen diese Gesetzesvorlage zu kämpfen. Aber durch das Gesetz wurde es hunderttausenden verzweifelten, geknechteten, in prekären Verhältnissen lebenden Arbeitern unmöglich gemacht, sich gegen zwei übermächtige Multimilliardenkonzerne zur Wehr zu setzen, ohne gegen das Kartellrecht zu verstoßen. Normalerweise setzen Arbeitnehmer ihre Forderungen durch, indem sie eine Gewerkschaft gründen und streiken - das kürzlich verabschiedete kalifornische Gesetz schiebt dem einen Riegel vor.
Tausenden ausgebeuteten Fahrern, die einen existenzsichernden Lohn verlangen, mit dem Kartellrecht zu drohen, ist absurd. Und die beiden internationalen Konzerne, die ihnen diesen Lohn verweigern, ungeschoren davonkommen zu lassen, ist die Bankrotterklärung der Chicagoer Schule.
Deren angebliche Neutralität hat sich als reine Augenwischerei entpuppt. Alle Parteien vor dem Gesetz gleich zu behandeln hört sich zunächst einmal gut an, aber man sollte bedenken, was das wirklich bedeutet: Einen Arbeitgeber, der seiner Angestellten ein sexuelles Angebot macht, genauso wie einen Teenager zu behandeln, der mit einem anderen Teenager ausgehen will. Oder ein „Kartell“ aus vielen einzelnen Uber-Fahrern genauso zu behandeln wie ein Kartell aus großen, internationalen Verlagshäusern.
Das qualitative Element auszuschließen ist ein qualitativer Akt. Nicht alle Öfen sind gleich – welche quantitative Asche am Ende übrigbleibt, ist das Resultat einer Entscheidung, keiner Gleichung.
Trotzdem kann Mathematik sehr nützlich sein. Etwa wenn wir eine „evidenzbasierte Politik“ fordern, also gesellschaftliche Regeln, die das objektiv beste Ergebnis zu liefern versuchen. Aber wenn qualitative Faktoren in menschlichen Gesellschaften nie völlig auszuschließen sind, ist Objektivität unmöglich zu erreichen, oder?
Vielleicht doch.
Nehmen wir beispielsweise David Nutt, einen angesehenen Psychopharmakologen, der 2008 als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats für Drogenmissbrauch im Dienste der britischen Regierung Regeln dafür festsetzen sollte, welche Drogen unter welchen Umständen verboten werden sollten. Um die Drogengesetzgebung einer Neubewertung zu unterziehen, bat Nutt ein Expertengremium, bestimmte Substanzen danach zu beurteilen, wie schädlich sie für die Konsumenten selbst, deren Familien und die Gesellschaft generell sind. Aufgrund dieser quantitativen Daten konnte er die Drogen in drei Kategorien einteilen:
1. Drogen, die sehr gefährlich sind, egal wie man ihre Schädlichkeit für Gesellschaft, Familie und Konsumenten gewichtet.
2. Drogen, die weniger gefährlich sind, egal wie man ihre Schädlichkeit für Gesellschaft, Familie und Konsumenten gewichtet.
3. Drogen, deren Gefährlichkeit sich dramatisch verändert, je nachdem, welches Gewicht man dem Schaden für Gesellschaft, Familie und Konsumenten beimisst.
Nutt legte diese Kategorien dem britischen Parlament vor und bat um die Entscheidung, welcher Schaden am ehesten abgewendet werden sollte. Die Frage, ob der Schutz des Individuums, der Familie oder der Gesellschaft Vorrang hat, ist politisch, unreduzierbar qualitativ und nicht empirisch zu beantworten. Wenn aber diese subjektive, politische Priorität einmal gesetzt ist, kann man beispielsweise Drogen mit empirischen Mitteln anhand dieser Priorität klassifizieren. Das qualitative Element ist wichtig, aber nicht alles. Nur, weil wir das Subjektive nicht ausblenden können, heißt das nicht, dass wir die Objektivität über Bord werfen müssen.
David Nutt ist nicht länger Drogenberater der britischen Regierung. Er wurde gefeuert, nachdem er sich weigerte, eine Rede zurückzuziehen, in der er Cannabis und andere illegale Substanzen als weniger gefährlich als die legalen Drogen Alkohol und Tabak bezeichnete. Vermutlich hat ihn der Alkohol zu Fall gebracht, immerhin ist die Spirituosenindustrie eine der monopolisiertesten Branchen überhaupt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der englische Spirituosenmarkt nur deshalb profitabel ist, weil so verantwortungslos gesoffen wird. Wenn sich jeder in England an das Motto „Genuss mit Verantwortung“ halten würde, wie es die Branche selbst scheinheilig rät, würde sie keinen Profit mehr machen.
Die englische Getränkeindustrie reagierte, indem sie ein Programm zum verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol auflegte, das in Schulen und Universitäten zum Einsatz kam. Das Programm hat nicht das Geringste gebracht – außer den Firmen den Beweis dafür zu liefern, dass Komasaufen in der Natur des Menschen liegt und die Alkoholhersteller nichts dagegen tun können. Nutt erarbeitete ein eigenes Programm und verglich dessen Effektivität in einer Studie mit dem der Alkoholbranche. Dass seine Kampagne bei Weitem effektiver war, ist kaum überraschend. Ebenso wenig überrascht, dass das ineffektive (aber profitwahrende) Programm der Alkoholhersteller nicht durch Nutts bessere (aber profitschmälernde) Version ersetzt wurde.
Wir können die qualitativen Faktoren also nicht außer Acht lassen. Und trotzdem können wir eine Reihe empirisch wahrer Aussagen treffen:
1. Alkohol ist gefährlicher als Cannabis.
2. In der Alkoholbranche herrscht ein Monopol, das den nötigen Profit liefert, um Lobbyarbeit für eine Politik zu betreiben, die Millionen Todesopfer zu verantworten hat.
3. Jeden gleich zu behandeln ist nicht gerecht.
4. Uber-Fahrer sind Angestellte, werden aber nicht als solche behandelt.
5. Die Chicagoer Schule war immer subjektiv und benutzte die Empirie nicht als Werkzeug, sondern als Knüppel.
Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit seinem Blog, seinen öffentlichen Auftritten und seinen Büchern hat er weltweit Berühmtheit erlangt. Sein Roman „Walkaway“ ist im Shop erhältlich. Zuletzt erschien bei Heyne seine Novelle „Wie man einen Toaster überlistet“ (im Shop).
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