2. März 2020

Kain und Babel

Anita Tengelmanns Marginalien und andere Wunderbarkeiten aus Wanne-Eickel

Lesezeit: 3 min.

2020 – welch ein Jahr! Ich möchte dieses Datum einmal nutzen, um Löbliches über meine Heimatstadt Wanne-Eickel zu sagen.

Warum?

Nun, erstens habe ich in dieser meiner Geburtsstadt mein erstes „PERRY RHODAN im Bild“-Comic erworben, Armstrong auf dem Mond landen sehen und bin anno 74 Weltmeister geworden, gewissermaßen.

Zudem steht in dieser Stadt der berühmte Mondpalast, ein Haus, das den Vergleich mit der Mailänder Scala oder der Met Opera in New York nicht scheut, auch wenn beide wohl nie nach Wanne-Eickel kommen werden, um sich vergleichen zu lassen.

Zum Inventar des lunaphilen Theaters gehört ein waschechter Prinzipal, ein wahrer Theatervater, menschgewordene Litfaßsäule und Kummerkasten in einer Person, der vor jeder Aufführung vor sein Publikum tritt und das Wie und Was des Hauses erklärt, eine Gebrauchsanweisung, gesättigt mit viel erprobten Scherzen und beachtlichem Timing. Nehmt das, Met und Scala!

Aus Wanne-Eickel stammen unter anderem der Eiskunstläufer und Aktenzeichen XY ungelöst-Moderator Rudi Cerne, der großartige, hinreißende und überhaupt Bassklarinettist Eckard Koltermann und der sachkundig-wortgewaltige Fußballjournalist Christian Eichler, den es, den Armen, nach München verschlagen hat, wo er zwischen Hofbräuhäusern und Rostbratwurstbratereien sein Leben fristet.

Die in Wanne-Eickel ebenfalls (wie ich vermute) recht populäre Leonie Saint, bürgerlich Simone Peschkes, geborene Wassenberg, ist haarscharf an Wanne-Eickel vorbeigeboren worden und deswegen nur Hernerin. Schade. Aber zweifellos hat sie mit ihren Filmen, in denen vor allem Nackedeis agieren und anmutige Paare beim mal anmutigen, mal sportlichen Paaren bestaunt werden können, vielen Wanne-Eicklern viel Freude gemacht.

Sollte man deswegen ein Denkmal für Leonie Saint fordern? Warum nicht, ich hätte nichts dagegen. Denkmäler sind in Wanne-Eickel rar gesät.

Ich sehe voraus: eine ganze Allee voller Denkmäler. Ein besonders schönes (vielleicht aus Jade? Kohle? Kunststoff?) wünsche ich Anita Tengelmann, Schwiegertochter des Wanne-Eickeler Poeten Lothar Tengelmann. Lothar Tengelmann ist heute weitgehend der Vergessenheit anheimgefallen; seine im Berg- und Hafenarbeitermilieu spielenden Lustspiele wie Unser Fritz – 7. Sohle oder Wir Schauerleute scheinen nur noch von literaturhistorischem Interesse, und dieses Interesse ist sogar im Germanistischen Institut der famosen Ruhr-Universität Bochum gering. Nicht einmal der Mondpalast würde sie, auch nicht in einer runderneuerten Gestalt, auf die Bühne bringen wollen – der Mondpalast schon gar nicht.

Großer und immer größerer Popularität aber erfreuen sich die Kommentare, die Tengelmanns Schwiegertochter Anita, geborene Schwidurski, an den Rand von Tengelmanns Manuskripte kritzelte – übermütig-boshafte, gehässig-schandbare Mitteilungen, die von jeder political correctness so weit weg sind wie Wanne-Eickel von der Galaxie Andromeda.

Ob sie je auf Leser rechnete – man weiß es nicht. Vorsorglich jedenfalls fasste sie solche ins Auge und bezeichnete sie als „Flitzpiepen“, „Klapsmühlenkandidaten“, „Arschgeigen“, „Gartengnome“ oder „Boofke & Sohn“ – immer liebevoll, versteht sich.

„Anita Tengelmanns Kritzeleien“ kursierten unter diesem Titel in den 1970er Jahren in hektographierter Form auf allen weiterführenden Schulen und erfreuten sich bei den Pennälern ähnlicher Beliebtheit wie das Deutsche MAD oder die Clever & Smart-Comis; die offiziellen Verlage wollten davon nichts wissen.

Erst als sich der im benachbarten Recklinghausen ansässige Kleinverlag Heiko Kutsch der Sache annahm und die Randnotizen unter dem Titel „Anita Tengelmanns Marginalien“ druckte und herausbrachte, begann der Siegeszug, zunächst nur in den Stadtgrenzen Wanne-Eickels, dann im Ruhrgebiet, schließlich übers Ruhrgebiet hinaus.

Manche Wendung aus Tengelmanns Marginalien ist ganz ins Ruhrdeutsch eingebürgert und zum geflügelten Wort geworden, ohne dass jedermann wüsste, dass Anita Tengelmann ihre Quelle war. Sätze wie „Das ist ja das reinste Soda und Gomorrha“ zum Beispiel, „ganz oder gratis!“, der „Schnapshase“ und die „Schottentotten“, der „Volksalkoholiker“ oder die „Gebrüder Kain und Babel“ – alles Prägungen und Wortschöpfungen von Anita Tengelmann.

Anita Tengelmann hat im Jahr 1920 das Licht der Welt erblickt, und zwar in Crange (einem Stadtteil des Amtes Wanne); 2014 hat sie ihre Augen vor eben diesem Licht voller Genugtuung und für immer geschlossen.

Sie hat, und das ist uns allen durchaus ein Trost, noch erlebt, dass und wie die Stadt am 6. September 1984 Adolf Hitler die Ehrenbürgerschaft abgesprochen hat. Gut so. An zukunftsweisende Kandidaten für die Ehrenbürgerschaft mangelt es ja nicht: siehe oben!

 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

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