19. Dezember 2024 3 Likes

Die Stunden zwischen Gestern und Morgen

Zu Weihnachten: Das 21. Jahrhundert ist bereits ein Vierteljahrhundert alt, aber eigentlich hat es noch gar nicht begonnen

Lesezeit: 5 min.

In den Stunden zwischen Gestern und Morgen liege ich oft wach. Das sei eine genetische Veranlagung, sagen die Ärzte, dagegen könne man nichts tun. Also schimpfe ich, während ich nachts wach liege, auf meine Vorfahren, lausche dem Flüstern von Raum und Zeit und warte auf den Schlaf.

Manchmal, wenn er einfach nicht kommen will, greife ich nach einem kreisrunden, gold-silbernen Objekt, das auf dem Nachtkasten liegt. Ein Zukunftskalender. Wolfgang Jeschke, mein Vorgänger als Science-Fiction-Herausgeber im Heyne-Verlag, hat ihn mir vor vielen Jahren geschenkt, als er sich in den Ruhestand verabschiedete: ein kleines, mechanisches Wunderwerk, mit dem man, indem man bestimmte Tage einstellt, in der Fantasie durch das 21. Jahrhundert springen kann.

Zum Beispiel so.

Am 4. Dezember 2063, ein Dienstag – verkünden Wissenschaftler, dass sich auf der Zugspitze wieder ein Gletscher bildet.

Am 10. Juni 2032, ein Donnerstag – tritt die souveräne Ukraine der Europäischen Union bei.

Am 28. September 2074, ein Freitag – findet auf dem Mond ein Kris-Kristofferson-Gedächtniskonzert statt.

Am 20. Januar 2037, ein Dienstag – hält die erste amerikanische Präsidentin ihre Inaugurationsrede.

Am 8. Juli 2044, ein Freitag – stürmen Studentinnen und Studenten in Peking die Halle des Volkes.

Am 7. August 2067, ein Sonntag – wird Elon Musk auf dem Mars beerdigt.

Am 27. April 2082, ein Montag – werden der Luchs-Dame Janina die Attribute einer vollwertigen Person verliehen.

Und am 31. Dezember 2099, ein Donnerstag …

Diesen Tag, Silvester 2099, werde ich leider nicht mehr erleben. Vielen jüngeren Zeitgenossen wird es allerdings vergönnt sein, den Beginn des 22. Jahrhunderts zu feiern. Denn das 21. Jahrhundert ist nun auch schon wieder ein Vierteljahrhundert alt. Einst war es die Sehnsuchtsepoche der Science-Fiction: das Jahrhundert, in dem die Menschheit endgültig den großen Sprung nach vorne machen würde. Doch so kam es nicht. Heute, in den Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts, fühlt es sich eher an, als würde die Menschheit durch einen zähen Sumpf waten. Als hätte sich das, was spätere Historikerinnen und Historiker einmal als Signatur unserer Zeit kennzeichnen werden, noch gar nicht ereignet.

Das wäre jedenfalls, historisch betrachtet, keine Premiere. Würde man in die Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts zurückreisen und sich fragen, was die damalige Zeit ausmachte, fiele die Antwort nicht schwer: der unaufhaltsame Aufstieg brutaler Ideologien, die, unter Berufung auf die „Logik der Geschichte“, ganze Gesellschaften neu ausrichteten und dabei tief in die Psyche der Menschen eindrangen. Aber diese Ideologien und ihre Protagonisten wurzelten alle im 19. Jahrhundert, und es dauerte nicht lange, da waren sie auch schon wieder verschwunden. Oder zu bürokratischen Parteidiktaturen erstarrt. Es dauerte nicht lange, da hatte das 20. Jahrhundert einen völlig anderen Charakter. Nun war unbegrenzter Fortschritt die Verheißung, der materielle Überfluss, die vollständige Unterwerfung der Natur. Die „Große Beschleunigung“ ab den 1950er-Jahren – die sich exponentiell steigernde Ausbeutung der planetaren Ressourcen – ist die eigentliche Geschichte des letzten Jahrhunderts. So etwas hatte es nie zuvor gegeben.

„Du lebst zwar in deiner Epoche, aber vielleicht bist du nur das Gespenst einer anderen“, schreibt Carlos Fuentes in seinem Roman Terra nostra. Manchmal, in den Stunden zwischen Gestern und Morgen, denke ich, dass wir das 20. Jahrhundert erst noch zu Ende leben müssen. Dass nicht nur die Trumps und Putins und Xis, sondern die allermeisten Menschen der Gegenwart die Gespenster einer früheren Epoche sind. Dass das eigentlich Neue – das, was das 21. Jahrhundert einmal ausmachen wird – noch vor uns liegt. Und dass es das Gegenteil von dem sein wird, was das Vorherige ausgemacht hat.

Wird noch in unserer Zeit etwas wirklich Neues geschehen? Aktuell sieht es nicht danach aus. Im Gegenteil. Es sieht danach aus, als würden die Gegenwartsereignisse die Zukunft einzementieren. Die Folgen der Klimakrise und des Artensterbens werden unsere Kinder und Enkel noch viele Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte beschäftigen. Worauf könnte sich also die Annahme gründen, dass sich wirklich etwas ändert? Worauf können wir, mit dem guten alten Kant gefragt, hoffen?

Jedenfalls nicht auf die individuelle menschliche Vernunft, das dürften wir inzwischen gelernt haben. Viel zu viele Menschen (und das hat nichts mit dem Internet oder einer anderen technischen Neuerung zu tun, das hat es schon lange vorher gegeben) verschließen sich gegen alles, was Zweifel an dem aufkommen lassen könnte, was sie zu wissen glauben. Viel zu viele Menschen haben sich in sektenhaften Denksystemen eingerichtet.

Das wirklich Neue wird sich erst dann ereignen, wenn die Menschheit kollektiv zur Vernunft kommt. Irgendwann im 21. Jahrhundert (aus Spaß stelle ich auf meinem Zukunftskalender den 3. Februar 2057 ein, ein Samstag, mein Geburtstag) wird einer kritischen Masse von Menschen bewusst werden, dass sie in einer kolossalen Lüge gelebt haben. Dass sich die Verheißung des 20. Jahrhunderts von der Unterwerfung der Natur nicht – nie – erfüllen wird. Erst in diesem Moment beginnt das Neue.

Das ist kein optimistischer Ausblick. Denn auf dem Weg dorthin wird noch viel kaputt gehen, die Verluste an Leben aller Art sind schon heute unerträglich, und die meisten Menschen haben sich noch nicht einmal zu der banalen Einsicht durchgerungen, dass sich etliche Probleme dadurch lösen lassen, dass man sich mäßigt. Es könnte also ein langer schmerzhafter Weg durch das 21. Jahrhundert werden. Und spätere Historikerinnen und Historiker werden womöglich zu dem Schluss kommen, dass es nur eine Übergangszeit war, dass die Menschheit erst im 22. Jahrhundert zur Vernunft gekommen ist.

Oder auch nicht. Manchmal geht es nämlich sehr schnell. Manchmal, wie vor einigen Tagen in Syrien, zeigt sich schlagartig, wie morsch und zerbrechlich der Boden ist, auf dem Diktaturen, Ideologien, Weltsichten errichtet sind.

Das sollte uns eigentlich nicht überraschen. Schließlich ist eines heute anders als in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts: Nationalismus und die Ausbeutung von Menschen und Ressourcen mögen immer noch der Boden sein, auf dem viele der heutigen Gesellschaften errichtet sind, aber wir wissen inzwischen, dass dieser Boden morsch ist. Dass er eines Tages einbrechen wird. Dass er jetzt noch eine, wie es Manès Sperber einmal formuliert hat, „größenwahnsinnige Gegenwart“ ist, aber schon bald Vergangenheit sein wird.

Auch die Ereignisse des 21. Jahrhunderts, wie ich sie mir in meiner Fantasie vorstelle, ob sie nun so kommen oder nicht, alle diese Ereignisse werden einmal eine größenwahnsinnige Gegenwart sein. Und dann werden sie Vergangenheit sein, und die Menschen werden sich fragen, wie es sein konnte, dass sie so sehr im Bann dieser Ereignisse gestanden haben. In unserem Leben, diesem verschwindend geringem Ausschnitt von Allem, ist das ein Trost. Während wir uns erst mit Zeit anfüllen und schließlich in der Zeit verschwinden, weicht die so dröhnende, so überwältigende Gegenwart dem Verständnis, dass wir uns von der Zukunft immer überraschen lassen müssen.

In den Stunden zwischen Gestern und Morgen, wenn ich wach liege und mit meinem Zukunftskalender durch das 21. Jahrhundert springe, hoffe ich darauf, eine solche Überraschung zu erleben.

Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten.

Und feiern Sie schön am 31. Dezember 2099.
 

Sascha Mamczak ist der Autor von „Die Zukunft – Eine Einführung“ und „Science-Fiction. 100 Seiten“. Zuletzt ist sein Jugendsachbuch „Überall Leben – Vom erstaunlichen Miteinander der Arten auf unserem Planeten“ erschienen. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.