Die Zukunft verblasst im Futurozän
Unaufhörlich wird die Science-Fiction von der Wirklichkeit überholt – was macht das mit uns?
Auch auf die Gefahr hin, dass es etwas albern wirkt, habe ich mich entschieden, doch noch meinen Vorschlag einzureichen, wie man das Zeitalter, in dem wir gerade leben, nennen könnte. Albern deshalb, weil einerseits das Kandidatenfeld schon rappelvoll ist und es andererseits ohnehin auf den von Paul Crutzen im Jahr 2000 in die Diskussion eingebrachten Terminus „Anthropozän“ zuzulaufen scheint; andere kreative Wortschöpfungen wie „Kapitalozän“, „Technozän“, „Anglozän“, „Plastozän“ und einige mehr haben offensichtlich nur Außenseiterchancen.
Und man muss ja auch zugeben, dass der Begriff Anthropozän eine gewisse frivole Attraktivität ausstrahlt, sonst hätte er nicht in kürzester Zeit praktisch den gesamten wissenschaftlich-feuilletonistischen Diskurs rund um die Auswirkungen, die das menschliche Treiben auf den Planeten Erde hat, erobert. Das Anthropozän ist alles zugleich: Tatsachenbeschreibung (der Mensch ist faktisch zu einer geosphärischen Kraft geworden), Handlungsauftrag (der Mensch trägt daher die Verantwortung für den Planeten) und Selbstermächtigung (weil der Mensch das bisher getan hat, wird er es auch weiterhin tun). Dass das Anthropozän ein Subjekt adressiert – „der Mensch“ –, das real gar nicht existiert, dass der Begriff also Machtfragen wie des unterschiedlichen Zugangs zu Ressourcen oder der ungleich verteilten Möglichkeiten, sich an Veränderungen anzupassen, ausblendet, ist einer der vieldiskutierten Schwachpunkte des Konzepts. Es gibt aber noch ein anderes Problem, auf das seltener hingewiesen wird: Das Anthropozän hat auch kein Objekt. Wenn Menschheitsgeschichte zu Erdgeschichte wird, wenn man die Grenze zwischen „Mensch“ und „Welt“ auf radikale Weise aufhebt, dann treibt man eine Illusion auf die Spitze, die uns schon seit längerem begleitet: dass es eine beliebig belast- und manipulierbare Welt gibt. Diese Illusion wird uns vermutlich ziemlich bald um die Ohren fliegen (eigentlich geschieht das schon jetzt), aber sie hat nichts mit dem Anthropozän zu tun, sondern speist sich aus einer tieferen Quelle: aus der Tatsache, dass wir nicht nur den Raum als für uns prinzipiell verfügbar betrachten, sondern auch die Zeit. Wenn es also darum gehen soll, das Holozän (in dem, wie Max Frisch so schön schreibt, „der Mensch erscheint“) durch etwas abzulösen, das den menschlichen Faktor mit einbezieht, dann schlage ich vor, dieses neue Zeitalter „Futurozän“ zu nennen.
Mit Futurozän (ich habe den Begriff sonst nirgendwo gefunden, also melde ich mit dieser Kolumne mal mein Copyright darauf an) meine ich eine Epoche, in der die Menschen ihre jeweilige Gegenwart prinzipiell nicht mehr ohne eine imaginierte Zukunft denken können. Diese Epoche ist recht jung, denn die meiste Zeit ihrer Geschichte hatten die Menschen keine Vorstellung von „Zukunft“, wie wir sie haben. Sie durchlebten einfach das Auf und Ab der Zeitläufte; „Zukunft“ war nicht mehr (und nicht weniger) als religiöse Heilserwartung. Im Laufe des 18. Jahrhunderts jedoch baute sich sukzessive das auf, was schließlich in einer „futuristischen Wende“ (Peter Sloterdijk) kulminieren sollte. Mit der vollständigen Erschließung des geopolitischen Raumes, mit der Entfesselung enormer Energiepotentiale und mit einem philosophischen Programm, das den Menschen ausschließlich als Resultat seiner Absichten definierte, öffnete sich die Zukunft als prinzipiell gestaltbarer Ort: als Ort unaufhörlicher Welt- und Selbstverbesserung. Das war gänzlich neu, und wie alles in der Menschheitsgeschichte geschah es auch nicht auf einen Schlag, sondern entwickelte sich graduell: Schritt für Schritt übernahm das Primat des Kommenden das des Geschehenen, wurde die Zukunft, wie Loren Eiseley es formulierte, zu unserer „primären Obsession“. Diese Obsession hat die desaströsen kollektiven Zukunftsräusche (ob rassen- oder klassenorientiert) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenso überstanden wie die potentiell menschheitsvernichtende Blockkonfrontation in der zweiten. Ja, es scheint, als würde sich das Futurozän erst jetzt, im 21. Jahrhundert, so richtig entfalten: Wie ein mit Zukunft aufgepumpter Michelin-Mann prescht unsere Gegenwart nach vorne – weiter, weiter, immer weiter.
Das Futurozän hat unzählige epochenspezifische Merkmale, deren Aufzählung den Rahmen dieser Kolumne sprengen würde. Drei davon erscheinen mir allerdings besonders wichtig:
1. Im Futurozän ist die Zukunft ubiquitär. Nicht in dem Sinne, dass wir Menschen uns ohnehin ständig mit dem „Schatten der Zukunft“ auseinandersetzen müssen, wenn wir Entscheidungen treffen, sondern in dem Sinne, dass wir aufgefordert sind, unaufhörlich in die Zukunft „zu investieren“, dass wir die Zukunft auf keinen Fall „verpassen“ dürfen. Im Futurozän ist die Zukunft eine Art Gottheit, der man Opfer darbringen muss. (Ich habe noch keine politische Talkshow gesehen, in der das Zauberwort Zukunft nicht als rhetorische Allzweckwaffe verwendet wurde.)
2. Im Futurozän ist die Zukunft unendlich verfügbar. Kein Tag vergeht, an dem nicht eine neue Zukunft verkündet wird; was gestern noch Zukunft war, wird heute schon belächelt. Während unsere Planungs- und Handlungstiefe expandiert ist, haben wir zugleich die Zeit verdichtet. Im Futurozän ist die Zukunft ein Geschäftsmodell, und Disruption gilt als Stabilität. (Kürzlich las ich in einer Zeitung die Überschrift „Von 5G hängt Deutschlands Zukunft ab“. Erinnert sich noch jemand an die Diskussion um 4G? Was war überhaupt 4G? Wann kommt endlich 6G?)
3. Im Futurozän ist die Zukunft Gegenwart. Längst ist es zur Standardfloskel geworden, zu fragen, ob etwas noch Science-Fiction oder schon Realität ist, und dabei werden keine klaren Grenzen gezogen: Etliches, was noch Science-Fiction ist, gilt schon als Realität – und andersherum. Im Futurozän sind Gegenwart und Zukunft auf verwirrende Weise überblendet. (Im letzten bayerischen Landtagswahlkampf warb eine der kleineren Parteien mit dem Slogan „Weniger Flugtaxis – mehr Platz fürs Radl“. Ich werde nie vergessen, wie eine ältere Dame völlig perplex vor diesem Plakat stand.)
Schon diese drei Merkmale des Futurozäns haben dramatische Konsequenzen: für die Gegenwart, vor allem aber für die Zukunft. Denn daraus resultiert ein fundamentaler Widerspruch zwischen unseren jeweiligen persönlichen Zukunftserwartungen und unseren Zukunftsvorstellungen bezüglich „allem anderen“. Das klingt harmlos (natürlich hängt meine Zukunft nicht von 5G ab), ist es aber nicht. Ich habe selbst einmal erlebt, wie renommierte Klimaforscher, nachdem sie ihre zurecht düsteren Prognosen referiert hatten, auf die Frage, wie sie denn ihre eigene Zukunft einschätzen, durchweg positive Antworten gaben. Im Futurozän haben wir es also mit einem unauflösbar erscheinenden Paradoxon zu tun: Wir Menschen sind eigentlich gar nicht so veranlagt, dass wir uns groß um die Zukunft kümmern, weil es in unserer Geschichte die allermeiste Zeit keinen Grund dafür gab (um genau zu sein: es gab keinen Selektionsdruck, der sich auf die Zukunft bezog), und doch haben wir neuerdings die Zukunft zum wirkmächtigsten Treiber der Gegenwart erkoren. Folglich besteht diese Zukunft aus, wie Timothy Morton es nennt, lauter Hyper-Objekten: Klimawandel, Künstliche Intelligenz, Superwaffen, Genmanipulation – Objekten also, die zu groß sind, als dass wir etwas damit anfangen könnten, obwohl wir es waren, die damit angefangen haben. Anders gesagt: Die Science-Ficion ist immer noch Science-Fiction, während sie sich längst ereignet – während der Meeresspiegel steigt, während Tiere geklont werden, während DNA umprogrammiert wird.
Im Futurozän gerät insofern das aus dem Blick, was der Epoche erst ihren Namen gibt: die eigentliche Zukunft. Auf dem Höhepunkt des Futurozäns, der, vermute ich, irgendwann gegen Ende dieses Jahrhunderts sein wird, werden wir uns wie der von Leonardo DiCaprio dargestellte Howard Hughes in der letzten Szene von Aviator vor lauter Zukunftsbesessenheit weder vor- noch zurückbewegen können, werden wir uns unsere Hyper-Zukunft in einem manischen Tick immer wieder neu selbst einspeisen: „… the way of the future … the way of the future …“ Das ist keine besonders erfreuliche Aussicht – es wäre also eine durchaus sinnvolle Aufgabe für die derzeitigen Bewohnerinnen und Bewohner des Futurozäns, sich darüber Gedanken zu machen, was wohl danach kommen könnte: wenn wir mit der Zukunft fertig sind, wenn die Zukunft mit uns fertig ist.
Wer weiß, vielleicht haben Sie da ja einen Vorschlag.
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