Isolierte Ideologien auf Erde und Mars
Mehr SF aus China: Hao Jingfangs Roman „Wandernde Himmel“
Dank Cixin Liu (im Shop) ist chinesische Science-Fiction auf dem Weltmarkt der Zukunftsliteratur derzeit so gefragt wie nie zuvor. Für seinen Roman „Die drei Sonnen“ wurde der 1963 geborene Liu 2015 sogar als erster SF-Autor aus China mit dem amerikanischen Hugo Award ausgezeichnet. Da Liu auch in seiner Heimat jede Menge Preise gewonnen hat und längst als internationaler Bestsellerautor gilt, kann man ihn ohne Weiteres als König der chinesischen Gegenwarts-Science-Fiction bezeichnen. Das macht Lius 1984 geborene Kollegin Hao Jingfang, die in der Schule ihren ersten Literaturpreis gewann, dann wohl zu so etwas wie der Kronprinzessin von Chinas literarischer Science-Fiction-Szene. Schließlich erhielt die studierte Astrophysikerin und Wirtschaftswissenschaftlerin 2016 für ihre ökonomisch-dystopische Novelle „Peking falten“ als erste chinesische Autorin den Hugo. Doch Dr. Jingfang, die heute für die China Development Research Foundation arbeitet, verheiratet ist und zwei Kinder hat, veröffentlichte neben vielen SF-Erzählungen auch einen Band mit Reiseberichten sowie einen realistischen Roman – und 2009 den Science-Fiction-Wälzer „Wandernde Himmel“, der in der Übersetzung von Marc Hermann bei Rowohlt Polaris gerade auf Deutsch erschienen ist.
Im 22. Jahrhundert liegt hinter der Erde und der Marskolonie ein erbitterter Krieg, der sich noch immer in einem Kalten Krieg fortsetzt. Um diesen nicht weiter eskalieren zu lassen und die Isolation der beiden menschenbesiedelten Planeten und ihrer Ideologien zu überwinden, gibt es mittlerweile Austauschprogramme zwischen der chaotischen Erde, wo die Marktwirtschaft und der Kommerz das Leben aller kontrollieren, und dem idealtypischen Mars, wo Kunst und Fortschritt das oberste Ziel der Gemeinschaft sind und kommerzielle Aspekte gar keine Rolle für Forscher oder Kreative spielen. Die tiefen Wunden aus den Schlachten vergangener, jedoch nicht vergessener Kriegstage und die gewaltige Kluft in Sachen Gesellschaftsform sorgen für noch mehr Vorurteile und Spannungen. Diese bemerkt auch die junge Luoying, die in Folge des Austauschprogramms mehrere Jahre auf der Erde verbrachte und nun mit einer irdischen Delegation auf ihren roten Heimatplaneten zurückkehrt. Außerdem stellt sie bei ihrer Heimkehr überfällige Fragen nach der Verurteilung und dem Tod ihrer Eltern und versucht zudem herauszufinden, ob ihr Großvater Hans, der Regent des Mars, trotz der ätherischen Schönheit und des kulturellen und technologischen Fortschritts ringsum am Ende nicht doch ein Diktator ist …
Cixin Liu trifft es ziemlich gut, wenn er in seinem wohlwollenden Blurb zu „Wandernde Himmel“ darüber schwärmt, dass Jingfang die Schwarz-Weiß-Träume des Genres bunt ausleuchtet. Das tut sie wirklich, und zwar auf eine stilsichere und überlegte, ruhige und gedankenvolle Art und Weise, die allen Fans von Ursula K. Le Guin (im Shop) und James Tiptree Jr. viel Freude bereitet. Ihre Vision des Mars verbindet obendrein die traditionellen Vorstellungen einer menschlichen Besiedlung mit aktuellen Konzepten und Möglichkeiten, was den roten Planeten im Buch zu einer glaubhaften Umgebung für Jingfangs differenzierte, experimentelle Betrachtung und Extrapolation unserer Gesellschaft macht. Da ihr von Fragen und Gedanken getragener Roman, der vor allem auf Personen und Politik setzt, so ganz ohne Action auskommt, sind 750 Seiten bei aller Schönheit und bei allem relevanten Gedankenfutter am Ende aber doch ein bisschen zu viel des Guten.
Nichtsdestotrotz freut es einen als deutschsprachigen SF-Fan, dass der Erfolg von Cixin Liu der hochtalentierten Hao Jingfang nach der Kleinverlags-Publikation von „Peking Falten“ einen Platz bei einem großen Verlag beschert hat. Bleibt zu hoffen, dass noch etwas mehr Science-Fiction aus China in der Breite auf den hiesigen Markt dringt. Vielleicht sollte man an dieser Stelle noch mal auf die Anthologie „Invisible Planets“ hinweisen …
Hao Jingfang: Wandernde Himmel • Rowohlt Polaris, Reinbek 2018 • 750 Seiten • Paperback m. Klappenbroschur: 16,99 Euro
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