18. Oktober 2018 1 Likes

Galatea und die Einsamkeit

Leslie S. Klingers „The New Annotated Frankenstein“, die schönste, lehrreichste und liebevollste aller Ausgaben

Lesezeit: 5 min.

Mary Shelleys 1818 veröffentlichter Roman “Frankenstein; or, The Modern Prometheus“ ist vieles auf einmal, eine Art Ding, das nicht sein darf. Er gleicht diesbezüglich dem namenlosen Geschöpf, das die wahre Hauptfigur darin ist, obwohl der Titel zu versprechen scheint, dessen Schöpfer in den Mittelpunkt zu rücken. Das Wesen – in welchem sich E.M. Ciorans existenziales Bekenntnis „Vom Nachteil, geboren zu sein“ als Apotheose des sowohl blank Kreatürlichen als auch zutiefst Humanen versinnbildlicht – verdankt sein Leben zu gleichen Teilen menschlicher Hybris, dem Hunger nach Wundern und Magie sowie dem Ringen um Aufklärung und Fortschritt. Die Kreatur ist ein Flickwerk-Mann (so kindlich-unschuldig wie ungeheuerlich groß und kräftig, so grässlich-zerstörerisch wie reflektiert-empfindsam, als Entität ohne Eigenschaften in die Welt gezwungen und doch das einzigartigste aller Individuen) und in ihrer monströsen Hybridität beunruhigend anrührend: Wir bezeichnen Viktor Frankensteins Schöpfung für gewöhnlich als Monster, laut Leslie Fiedler unser ältestes Wort für menschliche Anomalien; dessen Ursprungswort ist das lateinische Verb „monstrare“, was „zeigen“, „hinweisen“ und „lehren“ heißt, während sich „monstrare“ wiederum von „monere“ ableitet, das „erinnern“, „(er)mahnen“, „warnen“, „raten“, „anweisen“, „zurechtweisen“ und „strafen“ bedeutet und mit „monstrum“ schließlich die widernatürliche Geburt und das göttliche Mahnzeichen gemeint sind. Alles passt. Im 200. Jubiläumsjahr lohnt es sich immer noch, der Frage nachzugehen, was Shelleys berühmtes Buch und ihr Monster uns zeigen und lehren, woran sie erinnern, wozu sie raten, wovor sie warnen wollen.

Und in der Tat ist dieses Werk vieles auf einmal, allein formal betrachtet: Briefroman- und Ich-Erzähler-Struktur greifen darin ineinander. Es markiert darüber hinaus die Geburt eines ganzen Genres, der Science-Fiction – zumindest begründet es nach allgemeiner Übereinkunft als Proto-SF eine Tradition, die sich erst eine ganze Weile später als eigenständige solche entwickeln wird. Der (rüstig in sein 200stes Jahr gelangte) Roman ist ein schauerromantischer Kanon-Klassiker nicht nur der englischsprachigen Horror-, sondern der Weltliteratur, überall auf der Welt in unzähligen Ausgaben greifbar. Er bildet eine zeitlose und tieftraurige Parabel auf die unabdingbare Einsamkeit der menschlichen Existenz. Des Weiteren hat kaum ein anderes Erzählwerk die populäre Kultur quer durch sämtliche Medien und Kunstformen in dieser Dauer und Breite mit Inspirationsmaterial versorgt, mag der prägnant kantige Schädel Boris Karloffs die von der ursprünglichen Schöpferin imaginierten Bilder auch seit 1931 in den Hintergrund gedrängt haben. Schließlich ist „Frankenstein“ der dunkle und feministische Traum, den eine sehr junge Frau, konkret: ein später Teenager (Mary Shelley, die Mutter der Science-Fiction, war 19 Jahre alt, als sie mit der Konzeption und Niederschrift des Romans begann) von sich selbst träumte, zu einer Zeit, in der Frauen – um es euphemistisch zu formulieren – ungern der Zugriff auf Schreibutensilien gestattet wurde.


Mary Shelley, 1840 gemalt von Richard Rothwell

Shelleys Vater William Godwin war ein der Anarchie anhängender Sozialphilosoph, ihre Mutter Mary Wollstonecraft eine Frauenrechtlerin, ihr Ehemann Percy ein romantischer Dichter und Atheist, ihre gewohnte Gesellschaft eine insgesamt künstlerisch-intellektuelle. So aufgeklärt und freiheitlich ihr unmittelbares Umfeld dementsprechend auch war: „Frankenstein“ erschien in England zunächst anonym, während auf dem Titelblatt der 1912 publizierten deutschen Erstausgabe lediglich der Nachname „Shelley“ prangt (deren Lesepublikum sollte also nicht wie das englische an keine Frau, sondern im Zweifel an ihren berühmten Gemahl denken). Mary Shelley war, wie es Guillermo del Toro formuliert, eine moderne Galatea in einer Welt von Pygmalions, allerdings eine Galatea, die lauter und heller sang sowie entschieden forderte, dass die vielen aufdringlich formenden (männlichen) Hände sie losließen.

Del Toros liebevoll-empathische Mythos-Metapher entstammt seinem Vorwort zu einer nicht ganz taufrischen, aber mit ihrer Veröffentlichung im Jahr 2017 dennoch im Rahmen der diesjährigen runden Geburtstagsfeierlichkeiten verbleibenden (originalsprachigen), neuen „Frankenstein“-Ausgabe. Eine solche wäre angesichts der Menge an – auch üppig kommentierten bzw. historisch-kritischen – Buchversionen nichts, auf das hinzuweisen sich nachdrücklich lohnte, und es ist außerdem sattsam bekannt, welch prägende Rolle der Roman in Leben und Werk des bibliophilen Regisseurs von „Pans Labyrinth“ (2006), „Crimson Peak“ (2015) oder „Shape of Water – Das Flüstern des Wassers“ (2017) spielt. In unserem besonderen Fall genügt jedoch der Name des Herausgebers, um nicht nur zu ahnen, sondern genau zu wissen, die vielleicht nicht einsam beste, aber garantiert buchgestalterisch-haptische Maßstäbe setzende und hinsichtlich lehrreicher Vergnüglichkeit bislang ultimative Edition in die Hände zu bekommen. Mit diesem „Frankenstein“-Klotz (gerade noch klein genug, um die Grenzen der Griffigkeit nicht zu sprengen) setzt Leslie S. Klinger seine The-New-Annotated-Serie fort und verpasst dem „only entirely human-created, datable myth describing the origin of mankind“ (aus dem Nachwort von Anne K. Mellor, S. 279) ein extrem vorteilhaftes Erscheinungsbild, wie er es zuvor schon mit „Sherlock Holmes“, „Dracula“ oder dem Werk H.P. Lovecrafts tat.

Der Romantext bildet die Mittelkolumne und wird links, rechts, oben und unten von knapp eintausend Anmerkungen (die auch sämtliche Abweichungen der von Shelley überarbeiteten 1831er Neuausgabe gegenüber dem 1818er Original berücksichtigen) sowie circa zweihundert Illustrationen gerahmt. Hinzu kommen del Toros Vorwort, eine ausführliche und äußerst instruktive Einleitung Klingers, das Nachwort Mellors, eine ausführliche Bibliographie und schließlich sechs Appendizes (etwa ein Kurzessay Percy Bysshe Shelleys zu „Frankenstein“ oder eine kommentierte Präsentation sämtlicher Filme, die unmittelbar auf das Werk Bezug nehmen). Dank dieser alles andere als trockenen Blüten der Gelehrsamkeit (die Edition genügt wissenschaftlichen Standards, funktioniert aber dabei in erster Linie lesefreundlich, was viel mit Klingers Fähigkeit, enormes Wissen und originelle Einfälle in einer entspannter Erzählkunst nahen und akademischem Jargon fernen Sprache zu artikulieren, zu tun hat; dergleichen scheint den Angelsachsen generell leichter zu fallen) bedeutet die Lektüre keinesfalls ein strapaziöses literaturwissenschaftliches Studium in nuce; stattdessen steigt die Zugänglichkeit immens, denn dass es bei einem Roman des frühen 19. Jahrhunderts Hürden und Sperrigkeiten zu nehmen gilt, steht außer Frage.

Der Verfasser dieser Buchempfehlung las „Frankenstein“ wegen seines ausgeprägten Horror-Faibles erstmals im Alter von 13 oder 14 und kümmerte sich in den Folgejahren nicht die Bohne darum, von wem eigentlich dieser aus der Art geschlagene, einigermaßen unvergleichliche Roman stammt. Seriöse Ansätze zur Exegese literarischer Texte warnen nicht ohne Grund davor, selbige stur autobiographisch zu lesen. Bei Mary Shelleys protomodernem Mythos vom Monströsen als Ursprung des Menschlichen tauchen, und eben dies demonstriert Leslie S. Klingers Edition eindrucksvoll wie nie, Forschungen in die oben angerissenen Richtungen das Buch von diversen Seiten in neue Lichter. Der Spaß an der Sache (die ja, so man lediglich ihre populärkulturellen Verzweigungen kennt, durchaus fordernd daherkommt), die Erleuchtung, die Bewunderung und die Empathie für Shelley und ihr unsterbliches Geschöpf wachsen. „All art is self-portraiture. All storytelling is autobiography”, schreibt Guillermo del Toro einleitend in seinem Vorwort. Ihm, dem sentimentalen Genre-Auteur, hat sich maßgeblich durch „Frankenstein“ der Zugang zur eigenen Persönlichkeit und zu seiner Kunst erschlossen. Warum das so ist und wie man das nachmachen kann, erklärt Klingers „New Annotated Frankenstein“ besser als je zuvor.

Mary Shelley: The New Annotated Frankenstein • Edited with a Foreward & Notes by Leslie S. Klinger • Introduction by Guillermo del Toro • W.W. Norton & Company, New York • Hardcover • 352 Seiten • ca. $ 35,-

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