23. Dezember 2018 3 Likes

Verluste

Zu Weihnachten: über ein Bild und zwei Gedichte

Lesezeit: 6 min.

Kurz vor den Feiertagen habe ich es noch geschafft, im Münchner Museum Brandhorst die Ausstellung mit Bildern von Alex Katz zu besuchen: jenem New Yorker Maler, der schon Pop Art gemacht hat, bevor es den Begriff überhaupt gab, und der, inzwischen einundneunzig Jahre alt, viel mehr als nur ein Pop Artist ist. Es ist eine tolle Ausstellung, die einen guten Überblick über das Schaffen des großen Künstlers bietet – sollten Sie also in den nächsten Wochen in München sein, schauen Sie doch mal vorbei.

Aber das ist nicht der Grund, warum ich die Ausstellung erwähne. Der Grund ist ein ganz bestimmtes Bild in dieser Ausstellung: eines von Katz’ „cut outs“, ein ausgefrästes, beidseitig bemaltes Bild, das skulpturartig mitten im Raum steht. Das Bild – Sie können es gar nicht verfehlen, man läuft direkt darauf zu, wenn man die Ausstellung betritt – ist von 1969 und heißt „Al and Tom“. Es porträtiert zwei Männer, der eine im Profil, der andere dem Betrachter frontal zugewandt, in Katz’ typischem farbbetonten, statuarischen, ironischen Stil. Al und Tom waren Freunde von Katz, aber nur über einen der beiden findet sich in der Bildbeschreibung eine nähere Information: Der Mann im Profil ist der Maler Al Held. Wer Tom ist, bleibt den Ausstellungsbesuchern vorenthalten.

Es ist der Science-Fiction-Schriftsteller Thomas M. Disch.

Ich wusste, dass es dieses Bild gibt, aber mir war vorher nicht klar, dass es in der Münchner Ausstellung zu sehen ist, und so ist es ein ziemlich merkwürdiger Moment, als ich unvermittelt davor stehe. Wer von den anderen Besuchern um mich herum weiß, dass die kraftmeierische Pose, in der Katz Disch gemalt hat, einen ebenso brillanten wie empfindsamen Intellektuellen verbirgt? Wer hier weiß, welch herausragende Bedeutung Disch, der Autor von „Camp Concentration“, „334“ und „On Wings of Song“, für die Science-Fiction, für die Literatur insgesamt hatte? Wer hier weiß, dass Disch in seinen späten Jahren ganz großartige Gedichte geschrieben hat (von denen erst kürzlich eine Auswahl auf Deutsch erschienen ist)? Wer hier weiß, dass sich Disch 2008 im Alter von achtundsechzig Jahren in seinem New Yorker Apartment erschossen hat?

All das, was doch eigentlich zu diesem Bild gehört – ein ganzes Leben – all das, was nun nicht mehr da ist … Während ich vor „Al and Tom“ stehe, muss ich an eines von Dischs Gedichten denken, in dem er über einen geliebten Menschen schreibt, der ganz plötzlich stirbt: „He was simply removed from the scene / and ceased to exist / except as a figure in this / not very significant poem. / He couldn’t have been / that significant himself, / for just look around you: already / it’s tomorrow with all the excitement / that can bring, and you’ve forgotten / everything you thought you knew about him.“

Already it’s tomorrow … Es ist ein sehr trauriges, sehr wahres Gedicht: über einen Verlust, über unseren Umgang mit Verlusten, darüber, wie die Zukunft mit Pomp und Getöse die Lücke füllt, die das, was verloren gegangen ist, gerissen hat, darüber, wie das, was verloren gegangen ist, immer mehr verblasst, bis sich schließlich niemand mehr daran erinnert. So funktioniert das nämlich in dem seltsamen Universum, in dem wir leben: Wir verlieren etwas, Tag für Tag, kleine Dinge meistens, aber immer wieder auch große, bedeutende: eine Freundschaft, eine Liebe, ein Zuhause. Wir verlieren etwas, und wenn es verschwunden ist, wenn es Vergangenheit ist, ist es oft so, als hätte es nie existiert. (Zum Beispiel verlieren wir gerade weite Teile der irdischen Biosphäre, und es wird nicht allzu lange dauern, bis junge Menschen nicht mehr wissen, dass es dieses eine Tier oder diese eine Pflanze je gegeben hat.)

Vielleicht liegt das daran, dass wir einfach zu sehr an das Verlieren gewöhnt sind, dass es „zum Leben dazugehört“, wie man so sagt. Und um sich aufzumuntern sagt man auch: „Dann beginnt eben etwas Neues.“ Oder: „Dann öffnet sich eine neue Tür.“ Oder: „Lasst uns nach vorne schauen.“ Jedenfalls treffe ich immer wieder Menschen, die sich auf diese Weise motivieren, doch leider gehöre ich nicht zu diesem Typus Mensch, leider gehöre ich zu jenen, die schier daran verzweifeln, wenn etwas einfach so verloren geht: removed from the scene. Philip K. Dick sagte einmal: „Immer, wenn eine meiner Katzen stirbt, verfluche ich Gott“, und ich weiß genau, was er meinte. Das seltsame Universum, in dem wir leben, ist eigentlich nicht zu ertragen.

Was machen die Menschen, die es nicht ertragen können? Wie kommen sie jeden Morgen aus dem Bett?

Während ich vor „Al and Tom“ stehe, fällt mir noch ein anderes Gedicht ein, ein sehr bekanntes: „One Art“ von Elizabeth Bishop. Sie schreibt darin ebenfalls über Verluste und empfiehlt, das Verlieren als eine Kunst zu betrachten, die man, wie andere Künste auch, im Laufe eines Lebens erlernen kann: „Lose something every day. Accept the fluster / of lost door keys, the hour badly spent. / The art of losing isn’t hard to master.“ Drei Strophen weiter heißt es: „I lost two cities, lovely ones. And, vaster, / some realms I owned, two rivers, a continent. / I miss them, but it wasn’t a disaster.“ Und dann in der letzten Strophe: „Even losing you (the joking voice, a gesture / I love) I shan’t have lied. It’s evident / the art of losing’s not too hard to master / though it may look like (Write it!) like disaster.“

„One Art“ ist eines der berührendsten Gedichte, die ich kenne, aber nicht, weil es – wie es oft missverstanden wird – Trost spendet im Sinne von „Das ist doch alles nicht so schlimm“. Nein, es ist schlimm. Es ist eine Katastrophe, einen Menschen, ein Lebewesen, eine Welt zu verlieren, und was immer wir tun können, um das zu verhindern (und manchmal, wie im Fall der Biosphäre, können wir etwas tun), sollten wir tun. Wenn aber etwas wirklich verloren geht und nicht ersetzt werden kann, kann es trotzdem weiter ein Teil von uns bleiben, ein Takt in jenem Rhythmus, mit dem wir uns durch das Leben bewegen (bis wir selbst, das ist unvermeidlich, auch eines Tages verloren gehen). Elizabeth Bishops Gedicht etabliert einen solchen Rhythmus. Es verdrängt die Trostlosigkeit, die mit dem Verlust einhergeht, nicht, sondern bewegt sich mit ihr. Das ist die eigentliche Kunst.

Already it’s tomorrow – auch auf dieses Weihnachten wird ein neues Jahr folgen mit jede Menge Pomp und Getöse, mit Deals und Verlockungen, mit Meinungen und Ereignissen, und vieles, sehr vieles, was jetzt gerade geschieht, wird schon bald lange her sein und in Vergessenheit geraten. Aber nur, wenn wir das zulassen. Nur, wenn wir die Zukunft so sehen: wie eine die Vergangenheit zermalmende Maschine.

Man kann die Zukunft natürlich so sehen. Die meisten Menschen sehen sie so. Ganze Industrien sehen sie so. Aber ich sehe die Zukunft nicht so. Ich male mir die Zukunft, wie Alex Katz die Gegenwart malt: in all ihrer Unmittelbarkeit und Flüchtigkeit und gleichzeitig in all ihrer Ruhe und Stille. Sie überwältigt uns nicht, sondern erzählt uns etwas. The joking voice, a gesture I love … Nein, nichts ist verloren, es ist alles da. Alles kann zu einem Bild werden. Alles kann zu einem Gedicht werden. Alles kann zu einer Geschichte werden.

Ich wünsche Ihnen schöne Weihnachten.
 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft – Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

 

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