29. April 2019 1 Likes

Intelligenz: eingebaut

In der Zukunft ist die Bildung herrlich interaktiv

Lesezeit: 4 min.

Seit einiger Zeit schauen wir am Abend mit der ganzen Familie gemütlich gerne das so genannte Privatfernsehen – den deutschen Profitfunk. Denn diese Sender bieten im Übermaß, wonach unser Herz verlangt: nach Werbesendungen nämlich. Die schalten wir dann allerdings auf stumm und synchronisieren sie nach Gutdünken. Das ist meist mehr, selten weniger amüsant. Einer meiner All-Time-Favoriten ist eine Werbung, in der Postpakete, die (glaube ich) von Amazon auf den Weg gebracht und mit einem dienstbar-selbstvergessenen Lächeln bemalt worden sind, unterwegs zu einem couchhütenden Kunden lauthals singen: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde, / die stets man noch zum Hungern zwingt! / Das Recht wie Glut im Kraterherde / nun mit Macht zum Durchbruch dringt. / Reinen Tisch macht mit dem Bedränger! / Heer der Sklaven, wache auf! / Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger / Alles zu werden, strömt zuhauf!“

Überhaupt mag ich die Werbeunterbrechung. Man lehnt sich entspannt zurück, liest ein paar Seiten in einem guten Buch oder schont einfach mal die Augen. Werbezeit – geschenkte Lebenszeit. Wieviel entspannter wäre doch die Welt, wenn hier und da auch im wirklichen Leben Werbeunterbrechungen geschaltet würden! Unsere Schulen sind da, wie man hört, auf dem besten Weg. Schließlich werden die Gebäude neuerdings mit digitalem Bildungsgerät ausgestopft, dass es eine Freude ist. Interaktive Whiteboards an allen Wänden! USB-Sticks und Pads statt Buch und Hausaufgabenheft! Wer heutzutage nicht mit Strom unterrichtet, ist aus der Zeit gefallen.

Was aber passiert, wenn ich jedes „Dies & Das“ google, statt es papieren nachzuschlagen? Richtig: ein Werbeblöckchen poppt auf. Das ist immer hilfreich – klicke ich beim Onlinebuchhändler meines Vertrauens einen Titel an, informiert mich der freundliche Algorithmus sogleich: Kunden, die diesen Titel kauften, kauften auch …

Ein nützliches Verfahren, keine Frage. Hier ist noch viel pädagogisch-didaktisches Gold zu schürfen: „Schülerinnen und Schüler, die nach diesem Weltkrieg googelten, googelten auch nach: Blitzkrieg, Bomberangriff, Verdunkelung“ – warum an dieser Stelle in Zukunft nicht ein dezenter Hinweis auf die Möglichkeit, einen Ausbildungsvertrag bei der Bundeswehr unseres Vertrauens abzuschließen mit dem Ziel, die Welt zu einem sichereren Ort zu machen? Das Kriegshandwerk zu erlernen mit der Absicht, Weltfrieden zu stiften? Heißt es doch nicht umsonst: „Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor.“ Beziehungsweise: „Si vis pacem para bellum.“ Sagt wer? Sagt Marcus Tullius Cicero. Wer das ist? Googelt doch mal! Ein römischer Ritterssohn aus Arpino. Arpino? Stadt in der italienische Provinz Latium, in der Zeit der Staufer von Konrad IV. zerstört. Konrad who? Konrad, König des Heiligen Römischen Reiches, starb 1254; seine Witwe heiratete Meinhard II., Graf von Görz und Tirol – und Popp: Mach doch mal wieder Urlaub in Tirol! Angebote für ein „Spar & Spa“-Wochenende bei BestRest und Bookme.com in Verbindung mit dem Ichbindannmalweg-Tarif der Bahn.

Wie sind wir jetzt darauf gekommen? Ach ja, der Krieg, Vater aller Dinge.

Ich habe bei dieser Gelegenheit auch mal „Whiteboard“ gegoogelt und erfahren: Der CO2-Ausstoß einer Schule mit, sagen wir mal, vierzig Räumen produziert bei Ersatz der Whiteboards bis zu siebzig Kilogramm CO2 pro Unterrichtstag zusätzlich, also etwa vierzehn Tonnen CO2 im Jahr. Ein schöner Nebeneffekt. Wenn das System projektorbasiert arbeitet, müsste der Raum gegen das blendende Tageslicht verdunkelt werden. Verdunkelung – hatten wir das nicht eben noch beim Stichwort Weltkrieg?

Ja, hatten wir, und das ist ja auch gut so: Der aktuelle Unterricht soll ebenso individualisiert wie vernetzt sein.

Und wenn das System mal ausfällt?

Warum sollte das System ausfallen? Hat je jemand davon gehört, dass ein digitales System ausfällt? Finsterer Aberglaube, das!

Ein smartes Whiteboard mit 86 Zoll Bilddiagonale, „verzögerungsfreiem Multi-Touch und eingebauter Intelligenz“ ist, wie ich ergoogelt habe, schon für 8499 bis 11499 Euro zu haben. Sollte uns nicht schon die „eingebaute Intelligenz“ diesen Pappenstiel wert sein?

Ach, wer hätte nicht schon immer gerne auf den neuesten Schrei gehört! Erinnert sich noch jemand an die seligen 1970er Jahre, als allenthalben Sprachlabore in den Schulen wucherten? War man sich seinerzeit doch sicher, derartige Labore (was für ein sexy Begriff!) würden das Fremdsprachenlernen revolutionieren.

Wo mögen sie hin sein, diese Sprachlabore? Haben sie in weiser Voraussicht Platz gemacht für die Whiteboards unserer Zeit? Und wie wird man diese unsere Epoche mit ihrer Lieferando-Mentalität und der eingebauten Intelligenz einmal nennen?

Ich sehe sie schon kommen, die schöne neue Welt: Die Wohnungen sind wieder verdunkelt, denn ein neues, allumfassendes Bildungsbürgertum sitzt auf der Couch und lässt sich von der eingebauten Intelligenz auf einem erleuchteten Whiteboard die Weltgeschichte erklären. Die Straßen leer, nur einige autonome Sprinter sind unterwegs, um die Haushalte mit Schuhen, Pizzen oder Elitepartnern zu versorgen. Hin und wieder stehen wir auf, gehen zur Tür und nehmen von einer fleißigen Drohne ein Paket in Empfang, und wenn wir es öffnen, erklingt leise und wie von ganz fern: „Reinen Tisch macht mit dem Bedränger! / Heer der Sklaven, wache auf!“

Aber ach, es drängt uns ja nichts.
 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

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