15. Oktober 2019 1 Likes

Rückkehr nach Gilead

Margaret Atwoods „Die Zeuginnen“ (Obacht, Spoiler!)

Lesezeit: 4 min.

„Und so steige ich hinauf, in die Dunkelheit dort drinnen oder ins Licht.“ Selten hat sich der letzte Satz einer Geschichte so in das Gedächtnis der Leserinnen eingebrannt wie der aus Margaret Atwoods „Der Report der Magd“. Ist der Wagen der Augen Desfreds Ticket in die Freiheit oder ihre Fahrt zum Schafott? Während die von Hulu produzierte Serienadaption ihr Leben nach jener Szene zeigt, wählt die Grande Dame der kanadischen Literatur in „Die Zeuginnen“ einen anderen Weg.

Die Geschichte spielt sechzehn Jahre nach Desfreds vermeintlich letzter Autofahrt. Doch statt einen Blick auf ihr Leben zu erhaschen, beginnt „Die Zeuginnen“ mit den Geständnissen einer anderen prominenten Figur: Tante Lydia. Die autoritäre Herrin über die weibliche Sphäre überrascht mit Einsichten aus der Gründungszeit Gileads und Charakterzügen, die niemand von ihr erwartet hätte. Hinter der rauen Fassade verbirgt sich zwar kein weicher, aber doch ein rebellischer Kern. Sie fungiert als Historikerin, die ihre eigenen Verfehlungen und die der anderen dokumentiert – und liefert dadurch genügend Material, um die Herren an der Macht in Bedrängnis zu bringen.

Die anderen beiden zentralen Figuren des Romans sind deutlich jünger. Die eine, Agnes, kennt die Zeit vor Gilead nicht und hat sich scheinbar mit ihrem Schicksal abgefunden. Die andere, Daisy, ist zu jung, um die Gründung der Republik mitbekommen zu haben und lebt in Kanada. Beide jungen Frauen trennen nur wenige Jahre und dennoch Welten. Während Agnes von ihrem einst behüteten Leben als Kommandantentochter berichtet, demonstriert Daisy in ihrer Heimatstadt gegen das theokratische Regime. Ihrer beider Leben gerät von heute auf morgen aus den Fugen. Nach dem Tod ihrer Ziehmutter und der erneuten Hochzeit ihres Ziehvaters droht Agnes das Schicksal aller jungen Mädchen aus der Oberschicht: viel zu jung mit einer „guten Partie“ verheiratet zu werden. Für Daisy bricht nicht nur eine Welt zusammen, sondern ihre ganze Identität. Als ihre Eltern ermordet werden, lernt sie, dass sie nicht die Person ist, für die sie sich hielt. Es ist der Beginn eines Abenteuers, das Daisy undercover ins Herz von Gilead führt – und am Ende dessen Fall einläuten wird.

Eine Tante begeht Hochverrat. Eine junge Frau bekommt Einblick in die Geheimnisse des Landes. Eine Teenagerin wird zum Zünglein an der Waage. Drei starke Frauen, deren Wege sich kreuzen, drei unverwechselbare Stimmen, drei Ansichten aus Gilead. Mehr braucht Margaret Atwood nicht für „Die Zeuginnen“. Fast fünfunddreißig Jahre haben Leserinnen auf aller Welt auf eine offizielle Fortsetzung gewartet. Die erschien am 10. September zeitgleich in mehreren Ländern. Selten wurde ein Sequel so sehr gehypt, noch seltener drang so wenig wie möglich über die Geschichte nach draußen. Selbst Rezensionsexemplare wurden unter falschem Titel und Autorenname versandt. Mancheiner wollte Verlag und Autorin täuschen: Freiexemplar abgrasen und danach Madame Atwood erpressen? Die Versuche schlugen fehl – es braucht schon etwas mehr, um die Man Booker-Preisträgerin hinters Licht zu führen.


Margaret Atwood. Foto: YouTube

Apropos Booker-Preis: Den hat Atwood gerade frisch für „Die Zeuginnen“ verliehen bekommen. Somit zählt sie zu den wenigen Preisträgerinnen, die sich zum zweiten Mal über die begehrte Auszeichnung freuen können – und zu denen, die ihn teilen müssen (in diesem Fall mit Bernardine Evaristos Gesellschaftsroman „Girl, Woman, Other“). Damit würdigte die Jury nicht nur Atwoods kreatives, langjähriges Schaffen, sondern auch ein hochaktuelles Werk. Natürlich haben in den vergangenen Jahren Autorinnen wie Naomi Alderman („Die Gabe“) und Christina Dalcher („Vox“) die Lücke gefüllt, die Atwood zwischen „Report“ und „Zeuginnen“ hinterlassen hat. Dennoch: Die Magd ist (nicht zuletzt auch durch die Serie) zum kulturellen Phänomen und Symbol für die Unterdrückung der Frau geworden – keine andere fiktionale Figur kann ähnliches vorweisen.

Der unverwechselbare Stil der Kanadierin macht sie immer noch zu einer Ausnahmeerscheinung in der Phantastik. Ihr (so muss man es wohl nennen) spätes Werk liest sich wunderbar leicht und schnell weg, ist pointiert und mitreißend und lässt einen mitunter sprachlos zurück. Viele kleine und große Andeutungen sorgen dabei stets für einen Bezug zum Hier und Jetzt: Wenn Daisy zum ersten Mal Geflüchtete aus Gilead trifft, wirkt ihre Mission umso wichtiger – und ist die Realität nicht weit weg.

„Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich“ ist einer der zentralen Sätze des Romans und beschreibt Atwoods Herangehensweise an „Report“ und „Zeuginnen“. Ihre kraftvolle Prosa ist keine Vision und die Autorin keine Prophetin. Im Gegenteil: Die Historie ist Inspirationsquelle und Warnung zugleich. In „Die Zeuginnen“ erleben Leserinnen Aufstieg und Fall Gileads mit. Sie sehen, wer den ersten Stein geworfen hat, der das totalitäre Kartenhaus zum Einsturz brachte. Und am Ende gibt es dann doch noch ein lang erwartetes Wiedersehen mit einer totgeglaubten Heldin. Somit ist „Die Zeuginnen“ die Antwort auf alle Fragen der Fans und ein Kommentar auf unsere Gesellschaft. Gilead, so scheint es, ist vielleicht nur einen Steinwurf entfernt.

Margaret Atwood : Die Zeuginnen • Aus dem Englischen von Monika Baark • Berlin Verlag, Berlin 2019 • 576 Seiten • 25,00 €

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.