20. April 2020 1 Likes

Hochenergetische Antarktis

Warum es mehr als sensationell ist, dass auf dem kältesten Kontinent Neutrinos aus dem All gemessen werden

Lesezeit: 4 min.

Wenn Sie ein anschauliches Beispiel dafür suchen, wie fremdartig, Furcht einflößend und bizarr die Antarktis ist, kann ich Ihnen das Buch „The Impossible First“ empfehlen — die Geschichte des Entdeckers Colin O’Brady, der als erster Mensch ohne fremde Hilfe diesen Kontinent überquerte. Zwei Monate lang zog er einen 170 Kilo schweren Schlitten über das Eis. Ganz allein. Wieso? Weil er völlig verrückt ist, deswegen. Aber glauben Sie mir: Am Ende des Buches werden Sie schwer beeindruckt sein. O’Brady hat unter anderem mit Eisstürmen, Starkwinden, defekter Ausrüstung und einem Konkurrenten zu kämpfen, der ihm dicht auf den Fersen ist (ja, es waren tatsächlich zwei Leute verrückt genug, so etwas zu versuchen). Wirklich faszinierend!

Sein Bericht macht mehr als deutlich, wie fremd uns die Antarktis ist. Ein windgepeitschter, blendend weißer und eintöniger Kontinent — bis auf die Sastrugi: harte Eisrillen, die entstehen, wenn der Wind den Schnee abträgt. Es gibt wohl keinen Ort auf dieser Welt, an dem die Bedingungen einem fremden Planeten so ähnlich sind. Sagen wir mal so: Ich bin heilfroh, dass jemand wie O’Brady diese Expedition unternommen und darüber geschrieben hat. Mich würden keine zehn Pferde dazu bringen, so etwas zu machen. Da müsste diezukunft.de ordentlich was drauflegen …

Für mich erwies sich die Lektüre als geradezu prophetisch, da ich in der Woche, in der ich dieses Buch las, über eine ziemlich merkwürdige Meldung die Antarktis betreffend stolperte: Die NASA lässt im Rahmen des sogenannten Antarctic-Impulsive-Transient-Antenna-Experiments (kurz ANITA), mit dem ultra-hochenergetische kosmische Neutrinos erforscht werden, an Wetterballons befestigte Teilchendetektoren über den Kontinent schweben. (Unter dem Eis der Antarktis befindet sich übrigens ein ganzes Hochenergie-Neutrino-Observatorium der NASA mit dem treffenden Namen IceCube, doch an dieser Stelle soll uns in erster Linie ANITA interessieren.)

Seit 2016 wurden im Rahmen des ANITA-Projekts zu drei verschiedenen Gelegenheiten Neutrinos entdeckt — winzig kleine Partikel mit verschwindend geringer Masse. Zunächst klingt das nicht verwunderlich, immerhin ist das ANITAs Aufgabe. Das Interessante dabei ist jedoch: Die Teilchen kamen nicht aus dem Weltraum, sondern aus der anderen Richtung. Sie durchdrangen die Oberfläche der Antarktis und schossen direkt in den Himmel — und ein paar davon wurden von den Sensoren erfasst.

Selbstverständlich produziert die Antarktis keine Neutrinos — selbst Sastrugi wären dazu nicht in der Lage. Im Weltraum dagegen entstehen sie massenhaft. Damit sie aus der Oberfläche der Antarktis strömen können, müssen sie zuerst einmal durch den ganzen Planeten hindurch. Das ist für Niedrigenergie-Neutrinos kein Problem. Sie schlängeln sich einfach durch die anderen Atome. Ihre Hochenergie-Cousins hingegen — diejenigen, die von ANITAs Sensoren erfasst wurden — bekommen das nicht so einfach hin. Sie prallen üblicherweise von allem Möglichen ab, und es ist eine allgemein bekannte Tatsache (obwohl das Wort „Tatsache“ hier mit Vorsicht zu genießen ist), dass Hochenergie-Neutrinos die Erde nicht durchdringen können. Ich habe mich ein wenig über diese Teilchen schlau gemacht. Obwohl ich nicht behaupten würde, dass ich genau verstanden habe, was Neutrinos sind und welchen Zweck sie erfüllen, weiß ich doch so viel: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Hochenergie-Neutrino Tausende Kilometer Erdkern und Erdkruste durchdringt, geht gegen null.

Eine Menge Physiker sind deshalb beunruhigt, und normalerweise sind Physiker nur beunruhigt, wenn wir am Rande einer höllischen naturwissenschaftlichen Katastrophe stehen. Doch diesmal liegt der Grund glücklicherweise — oder unglücklicherweise, wenn Sie zufällig Physiker sind — darin, dass liebgewonnene Hypothesen und Anschauungen widerlegt zu werden drohen.

Die meisten Physiker arbeiten mit dem sogenannten Standardmodell — einer Reihe von Regeln, Beobachtungen und Naturgesetzen, die im bekannten Universum gelten. Das Standardmodell wird zwar ständig verändert und aktualisiert, seine Gültigkeit im Allgemeinen jedoch nicht angezweifelt. Doch unsere Hochenergie-Neutrinos könnten das alles über den Haufen werfen. „Wir wollen der Öffentlichkeit klarmachen, dass eine dem Standardmodell entsprechende astrophysikalische Erklärung für dieses Phänomen unmöglich ist — egal, wie man es dreht und wendet“, sagt die Physikerin Anastasia Barbano, die sowohl an ANITA als auch an IceCube mitgearbeitet hat.

Mal davon abgesehen, dass sich die Öffentlichkeit einen feuchten Dreck darum schert, ob das Standardmodell seine Gültigkeit behält, sondern erst mal alle Folgen von The Witcher auf Netflix sehen will: Das Ganze ist wirklich revolutionär. Ein neues Standardmodell könnte alles, was wir über das bekannte Universum wissen, auf den Kopf stellen. Die Wissenschaft wird eine Weile brauchen, um zu einer Schlussfolgerung zu gelangen — wie gesagt, die ersten Messungen fanden schon 2016 statt, und bis jetzt wird noch an deren Interpretation gearbeitet. Wer weiß, was passiert, sobald die Resultate ausgewertet sind? Die neuesten Entwicklungen in der Weltraumforschung sind ja schon ganz schön interessant — aber im Vergleich dazu beinahe Kinderkram.

 

Rob Boffard wurde in Johannesburg geboren und pendelt als Autor und Journalist zwischen England, Kanada und Südafrika. Er schreibt unter anderem für „The Guardian“ und „Wired“. Seine Romane „Tracer“ (im Shop), „Enforcer“ (im Shop) und „Verschollen“ (im Shop) sind im Heyne-Verlag erschienen. Alle seine Kolumnen finden Sie hier.

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