14. September 2020 1

Seid ihr auch Feinde der Demokratie?

Drei Ereignisse, die das Jahr 2020 für künftige Generationen definieren werden – oder auch nicht

Lesezeit: 5 min.

2020 – ein Jahr, wie kein zweites war. Was haben wir nicht alles gesehen, schon jetzt zu viel, um es in einen einzigen Jahresrückblick zu pressen: Geisterspiele, die Senkung der Mehrwertsteuer, den steilen Sternenflug der Toilettenpapierfabrikanten zu immer neuen Höhen der Beliebtheit … Stellen wir uns aber vor, wie man aus weiterer Zukunft auf dieses Jahr 2020 blicken wird. Ich glaube, es werden andere Ereignisse sein, die sich dem Gedächtnis der Menschen eingebrannt haben werden. Und wenn nicht, so sollen sie zumindest hier verwahrt bleiben wie grazile Mücken in einem Tropfen Bernstein.

Ereignis Nummer 1. Für alle, die es verpasst haben: Am Sonntag, den 28. Juni im Jahre des Herrn 2020, verloste der Gottesmann John Koletas in seiner Kirche, der Grace Baptist Church in Troy, New York, unter seinen Schäfchen (angestammten wie Gast-Schafen) ein AR-15 Sturmgewehr. Halleluja! Sagte der Herr Jesus doch schon in seiner berühmten Sturmgewehrrede: „Wenn dich aber jemand auf deine rechte Wange schlägt, so knall ihn ab, sonst schlägt er dir auch noch auf die linke Wange.“ Welch ein Wandel in der Wahrnehmung! Weg vom windelweichen Wunderheiler und Jesuslatschenträger zum selbstbewussten Law Enforcer des Herrn. Glückwunsch dem Gewinner!

Ereignis Nummer 2. Südlich von Basel liegt der Flecken Diegten, ein beschauliches Dörflein. Einen Aldi oder ein anderes Kaufparadies hat es zwar nicht, wohl aber einen Volg-Laden. Volg ist (laut Eigenwerbung) der „Spezialist für Dorfläden und Kleinflächen in der Deutschschweiz und Westschweiz. Kundennähe wird gelebt – als naheliegende Einkaufsgelegenheit sowie im persönlichen Kontakt.“ Man kauft dort kundennah dies und das, zum Beispiel das „Brot mit Herz“, Eigenwerbung: „Dieses sieht nicht nur herzig aus und schmeckt zu allem, was des Brotgeniessers Herz begehrt – sondern es tut allem voran von Herzen Gutes, da es Kindern Lachen schenkt.“ Sturmgewehre hat man zurzeit nicht im Sortiment. Warum also findet es sich in dieser Liste?

Nun, vor einiger Zeit betrat ein Knabe wundersam, acht Jahre alt und von seinem Bruder (zehn) und einem Nachbarsmädchen begleitet, die Diegtener Volg-Filiale. Bei der Sissacher Fasnacht hatten zuvor einige übermütige Jecken nachgemachte Euro-Banknoten ins immer geldlustige Schweizervolk geworfen, gedruckt auf gewöhnliches, reliefloses Papier, ohne Wasserzeichen und andere Sicherheitsmerkmale, dafür mit auffälligen, blauen chinesischen Schriftzeichen bedruckt: Totengeld. In Asien werden solche Noten Verstorbenen in den Sarg gelegt. Ein Brauch, der sich hierzulande noch nicht durchgesetzt hat. Hier könnte man sagen: Spielgeld.

Die Kinder jedenfalls hatten einige Scheine aufgehoben und stürmten damit (wenn auch ohne Gewehr) die dörfliche Volg-Filiale. Der achtjährige Schurke trat an die Volg-Verkäuferin heran, legte den Schein vor und fragte voller Heimtücke: „Cha me mit däm öppis chaufe?“ Die Verkäuferin, nicht faul, verstand, ob man damit etwas kaufen könne, verneinte und verjagte das Pack mit der Drohung, es solle sich packen, sonst würde sie (die Verkäuferin) die Polizei herbeitelefonieren.

Das Pack floh. Die Verkäuferin, nicht faul, alarmierte dennoch die Polizei. Die Polizei kam in Gestalt eines Polizisten (nennen wir ihn B.). Der hörte, sah sich Aufzeichnungen an und suchte dann die Familie der Schurkenkinder auf (Stammkunden im Volg-Laden, wo man Kundennähe lebt und des Brotgeniessers Herz beglückt respektive Kindern Lachen schenkt; leichtfertigerweise trug der Knabe während der Tat auch noch ein T-Shirt mit dem Firmenlogo seines Vaters – Hercule Poirot, übernehmen Sie!) Es galt, die beiden Söhne zu verhören und mit den Erziehungsberechtigten der Jungkriminellen ein strafverfolgendes Gespräch zu führen über diese „unschöne Tat, die gewiss keine Kleinigkeit ist“ (Eigenwerbung des Polizisten B.), sondern ein „Offizialdelikt“. Denn natürlich, so bekräftige bärenfest und kernig der Pressesprecher der Polizei Basel-Landschaft, habe man dem „Fall“ nachgehen müssen.

Drei Stunden verbrachte B. bei der Familie, verglich eifrig Überwachungsbilder vom Verbrechen mit den nun leibhaftig vor ihm stehenden Verbrechern und machte Fotos von dem Haupttäter. Dann unterrichtete er besagte Erziehungsversager, dass der Fall an die Jugendanwaltschaft weitergegeben werden müsse, wenn sie sich weigerten, das „Falschgeld“ herauszugeben. So unter Druck gesetzt, brach die Familie zusammen und händigte die restlichen Spielgeldscheine im Nennwert von 255 Euro aus. B. konfiszierte die gesamte Summe zur „Verhinderung von Straftaten“. Dank Foto und Verhör soll der Junge bis zum 6. Mai 2032 im Polizeisystem aktenkundig bleiben. Versteht sich, dass die Eltern dieser Brut für die folgenden Wochen zu einem Präventionsgespräch mit dem Jugenddienst der Baselbieter Polizei antreten mussten.

Ereignis Nummer 3. Kurz darauf, am 27. Juni 2020, selbes Jahr, anderer Ort (Berlin, Deutschland). Auf einem öffentlichen Platz tritt ein gewisser Attila Hildmann, Deutschlands prominentester Verschwörungskoch, unfreiwillig vor die Kameras und fährt ein paar Journalisten an wie nur ein Verschwörungskoch seine Radieschen. Die Journalisten filmen, was das Zeug hält. Der Koch fragt einen von ihnen: „Seid ihr auch Feinde der Demokratie?“

Ein bisschen kumpelhaft, die Ansprache, ein bisschen anwanzend vielleicht, aber so von Feind der Demokratie zu Feind der Demokratie mag das angehen. Dann verspricht der Koch: „Wir werden eure Namen finden, und dann gucken wir weiter.“ Einem Zuschauer befiehlt er: „Zisch mal ab!“, denn: „Ich weiß ganz genau, wer ihr alle seid hier“, nämlich: „Ihr kleinen Internet-Gangster. Ihr Tastatur-Gangster.“

Ja, 2020. Hier und heute kann (konnte) eben jeder alles werden! Eben noch Koch, nun Kenner des kriminellen Milieus, allwissender Wachhabender des je und je gefährdeten Gemeinwesens, kundiger Schauer ins Koch- und Adressbuch seiner Feinde. Ob er schon an einer AR-15-Tombola teilgenommen hat? Oder teilnehmen wird? Die Zukunft wird es weisen.

Ich aber ziehe bereits jetzt meine Schlüsse aus diesen Ereignissen: Ich werde in Zukunft wie auch bisher Volg-Filialen meiden, jedenfalls wenn ich kein anderes Zahlungsmittel als chinesisches Totengeld zur Hand habe. An einer Sturmgewehrverlosung werde ich eher nicht teilnehmen; für Lotto und dergleichen habe ich einfach kein Händchen. Manchmal frage ich mich: Was mag aus dem wackeren Polizisten B. geworden sein? Hat man ihn ob seines Einsatzeifers gelobt? Patrouilliert er heute auf einem Monopolyfeld von der Größe der Schweiz? Versorgt die Volg-Kette ihn mit jenem Brot, das Kindern Lachen schenkt?

Wird man diesen drei prägenden Gestalten des Jahres 2020 in kommenden Epochen ein Denkmal errichten (es stehen zurzeit ja etliche Podeste leer), vielleicht zu dritt? Attila, der Heldenkoch, Wachtmeister B. und Gottesmann John Koletas – das Dreigestirn unserer Epoche!

 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

Kommentare

Bild des Benutzers andreas10

Absurd.

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