6. Dezember 2021

Das Unvorstellbare

Kim Stanley Robinson hat mit „Das Ministerium für die Zukunft“ den Roman der Stunde geschrieben

Lesezeit: 6 min.

Von allen führenden Politikerinnen und Politikern der jüngeren Geschichte hatte Margaret Thatcher wohl am wenigsten das Zeug zur Science-Fiction-Autorin. Ihr Motto lautete nämlich: „There is no alternative“ – „Es gibt keine Alternative“. Eine Phrase, die sie so oft verwendete, dass sie zu einem Akronym wurde: TINA. Damit meinte sie nicht, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt, sondern dass man gefälligst aufhören sollte, über Alternativen nachzudenken. Nun ja … über Alternativen nachzudenken ist mein Beruf.

Hinter TINA steckt eine ganz bestimmte Philosophie: der „kapitalistische Realismus“ in dem Sinne, wie ihn Mark Fisher verwendete und wie er sich am besten mit dem (sowohl dem Philosophen Slavoj Žižek als auch dem Literaturtheoretiker Fredric Jameson zugeschriebenen) Satz „Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus“ zusammenfassen lässt. Žižek (oder vielleicht auch Jameson) beweist somit ein weitaus größeres Verständnis des Problems als Margaret Thatcher: Es ist einfacher, sich etwas vorzustellen, das den Kapitalismus ablösen könnte, als das Ende des Kapitalismus selbst.

So ging es mir jedenfalls bei meinem ersten Roman „Backup“, der von einer postkapitalistischen Zivilisation handelt, in der es keinerlei Knappheit mehr gibt und die Herrschaft über alle möglichen Ressourcen (inklusive der Walt Disney World) demjenigen übertragen wird, dessen allgemeines öffentliches Ansehen (das ständig durch ein Gehirn-Computer-Interface gemessen wird) höher als das seiner Konkurrenten ist – das sogenannte Woppel-System. In „Backup“ ist der Übergang vom Kapitalismus hin zum Woppel-System zugegebenermaßen recht schwammig beschrieben: Die Darstellung dieser Umwälzung beschränkt sich auf einige Rückblenden, die die Entwicklungen auf einem Universitätscampus beschreiben. Ich weiß also aus eigener Erfahrung, dass es einfach ist, sich eine Welt nach dem Kapitalismus auszudenken – und wie verdammt schwierig es ist, sich sein tatsächliches Ende vorzustellen.

Nehmen wir beispielsweise William Gibsons Jackpot-Romane „Peripherie“ (2014) und „Agency“ (2020), die in einer fernen Zukunft spielen, in der die Menschheit nach einer als Jackpot bezeichneten Übergangsphase, in der die Zivilisation kurz vor der Auslöschung stand, die Klimakrise überwunden hat. Der Jackpot selbst bleibt jedoch ein großes Fragezeichen, eine dem finsteren Mittelalter ähnliche Epoche, und wird weder beschrieben noch erlebt. Er ist ein Einschnitt, eine Zäsur: Erst gibt es unsere Gegenwart und dann die ferne Zukunft, in der der Systemwechsel bereits stattgefunden hat. Gibson zieht zwar alle Register seines Könnens, um über diese Lücke hinwegzutäuschen, aber sie macht sich trotzdem bemerkbar. Übergänge zu beschreiben ist eben eine knifflige Sache.

Auch Kim Stanley Robinson schreibt seit geraumer Zeit postkapitalistische Science-Fiction. Sein Roman „Pazifische Grenze“ (1990) hat mich damals zu „Backup“ inspiriert. In den Zehnerjahren veröffentlichte Robinson vier zusammenhängende Romane, in denen er sich – angefangen mit „2312“, das drei Jahrhunderte in der Zukunft spielt, über „Aurora“ und „New York 2140“ – schließlich mit „Roter Mond“ zur Gegenwart zurückarbeitete. Zunächst entwirft Robinson eine Gesellschaft, die den Kapitalismus seit Jahrhunderten überwunden hat, und nähert sich dann wie ein Artillerist, der sich immer genauer auf sein Ziel einschießt, dem Übergang zwischen Kapitalismus und Postkapitalismus.

Allerdings trifft er mit diesem Romanzyklus noch nicht ins Schwarze. Erst mit „Das Ministerium für die Zukunft“ gelingt es ihm, sich das Ende des Kapitalismus vorzustellen – und zwar nicht nur das Leben danach, sondern auch die mehrjährige Übergangsphase von einem System zum anderen. „Das Ministerium für die Zukunft“ ist ein außergewöhnliches, brillantes Buch. Im Reportagestil beleuchtet es anhand einer Vielzahl von Perspektiven und Schauplätzen die verschiedenen Aspekte dieses Übergangs (die Haupthandlung folgt einer Handvoll Protagonisten – dieser rote Faden bildet das Bezugssystem für die Nebenstränge).

Und schließlich – Žižek (oder Jameson) lässt grüßen – folgt auf den Untergang des Kapitalismus auch der Weltuntergang. „Das Ministerium für die Zukunft“ erzählt nicht nur vom Ende des Kapitalismus und dem Ende der Klimakatastrophe, sondern auch davon, dass wir mit unseren Produktionskapazitäten, Lebensgewohnheiten und unserem mangelnden Verständnis einen Prozess in Gang gesetzt haben, der sowohl unsere Spezies als auch die Zivilisation vernichten kann. Der Roman verspricht weder eine Rückkehr zur Normalität noch ein Ende der Krise, aber zumindest ein plausibles (heroisches, erbauendes und inspirierendes) Ende des Klimawandels.

Robinson stellt die Auswirkungen der Klimakrise schonungslos dar. Das Buch beginnt mit einer mörderischen Hitzewelle, die Nordindien heimsucht und zwanzig Millionen Todesopfer fordert – diese Tragödie bildet den Grundtenor des Buches: Von Anfang an weigert sich Robinson, die Augen vor dem unvorstellbaren Schrecken der Klimakatastrophe zu verschließen. Ich stehe der Forderung, Negatives nicht zu „normalisieren“, üblicherweise skeptisch gegenüber (früher oder später normalisiert sich alles, sogar in einem Straflager wird man seine Umstände irgendwann einmal als normal empfinden – wie können wir es dann schaffen, unseren Alltag nicht zu normalisieren?). Und doch gelingt es Robinson auf bemerkenswerte Art und Weise, die Klimakatastrophe als stetige, akute Bedrohung zu schildern.

In „Das Ministerium für die Zukunft“ gibt es noch eine weitere und viel abstraktere Ursache von Gewalt und Terror: Hier ist der Systemwechsel Folge verschiedener ökonomischer, sozialer und regulativer Strategien und Taktiken. Schlüssel zum Übergang sind spektakuläre Massenmorde – beispielsweise werden alle Privatjets, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Luft befinden, gleichzeitig durch Drohnen zum Absturz gebracht. Weder die Terroristen hinter diesen Taten noch die Opfer zählen zu den Figuren, die wir in den vielen Vignetten des Buches kennenlernen. Sie sind weit entfernt, abstrakte Größen. Dafür gibt es gute Gründe. Die Terroranschläge in Robinsons Roman sind wahrhaft verabscheuungswürdig. Sie genau zu beschreiben erhöht das Risiko, sie zu glorifizieren. Und doch …

Die angedeutete, nie konkretisierte Gewalt in „Das Ministerium für die Zukunft“ gibt mir zu denken. Robinson scheint zu glauben, dass das Ende des Kapitalismus zwangsläufig von derartigen Bluttaten begleitet sein wird. Immerhin hat die Geschichte gezeigt, dass die wenigsten Revolutionen gewaltfrei über die Bühne gehen. Wie sagt es eine meiner Figuren in meiner Novelle „Radicalized“ so schön (und zitiert dabei eine Onion-Schlagzeile): „Wer behauptet, dass Gewalt keine Probleme löst, kennt die Geschichte der Menschheit nicht.“ Ich bin ein friedliebender Mensch. Als ich zum letzten Mal jemanden aus Wut geschlagen habe, war ich zehn Jahre alt. Gewalt ist nicht mein Ding.

Die Häufigkeit und das Ausmaß von Waldbränden, Überflutungen, Pandemien und Hitzewellen nehmen derartig zu, dass der Schrecken eines unumkehrbaren Klimawandels inzwischen realer ist als Robinsons hypothetische Gewaltorgien an seinem Ende des Kapitalismus. Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als ein gewaltfreies Ende des Kapitalismus. Aber wir sollten es trotzdem versuchen.

In vielerlei Hinsicht leben wir bereits in einer postkapitalistischen Gesellschaft. Ein Großteil der wesentlichsten Arbeiten – Kindererziehung, die Pflege älterer Verwandter oder Freunde – wird nicht entlohnt. Und so gut wie keine Firma und kein Industriezweig könnte ohne staatliche Förderung Profite machen. Ganz besonders nicht durch die gewaltige öffentliche Subvention, die man als Klimakatastrophe bezeichnet, denn die großen Firmen machen nur Profit, indem sie die Kosten für ihr Wirtschaften auf uns abwälzen: die Stürme, Waldbrände und Dürren und der steigende Meeresspiegel. Würden die Unternehmen diese Kosten in ihre Bilanzen aufnehmen, müssten sie drastische Umstrukturierungsmaßnahmen ergreifen oder gleich Konkurs anmelden.

Es ist eine brutale Form des Postkapitalismus, in der unverzichtbare, harte Arbeit nicht entlohnt und nur die Kosten – aber nicht der Profit – auf die Gesellschaft umgelegt werden.

Aber es gibt eine Alternative.

Wir müssen sie uns nur vorstellen.

 

Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit seinem Blog, seinen öffentlichen Auftritten und seinen Büchern hat er weltweit Berühmtheit erlangt. Seine Romane sind im Shop erhältlich.

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.