„Peripherie“ nach William Gibson auf Prime Video
Die ersten beiden Episoden der neuen Cyberpunk-Serie zum Streamen
Warum eine hochwertige, coole Streaming-Serie nach einem Roman von William Gibson (im Shop) im Jahr 2022 überfällig ist? Darauf gibt es gleich mehrere Antworten. Zum einen hat Mr. Gibson die virtuelle Welt, die seit dem Jahrtausendwechsel immer mehr Teil unserer Wirklichkeit wurde, in seinen Romanklassikern um „Neuromancer“ ab 1984 gewissermaßen vorhergesehen, eine prägende fiktive Blaupause geliefert – damit befeuerte er die Visionen der ganz realen Technologien hinter der digitalen Revolution und der gegenwärtigen Virtualität, die mit dem Metaverse und ähnlichem bald einen weiteren Sprung machen soll. Zum anderen beeinflusste Gibson die gesamte Cyberpunk-Strömung in Literatur, Comic, Game und Film bis hin zu „Matrix“ oder „Cyberpunk 2077“ massiv. Er ist der Meister, dem bis heute alle folgen und huldigen, sowie Mensch und Maschine verschmelzen.
Darüber hinaus ist der 1948 geborene Amerikaner, der seit Ende der 1960er in Kanada lebt, noch immer einer der besten, interessantesten und kantigsten Autoren der modernen Science-Fiction. Seinen Roman „The Peripheral“ alias „Peripherie“ verfasste er 2014, inzwischen gibt es mit „Agency“ auch ein Sequel, aktuell arbeitet Gibson am abschließenden Band der Trilogie. Nun hat Prime Video den ursprünglichen Roman als Streaming-Serie adaptiert. Seit 21. Oktober stehen die ersten beiden gut einstündigen Episoden online, fortan geht es immer Freitags mit einer Folge weiter.
„Peripherie“, das gleich vorweg, ist bisher eine sehr werkgetreue Umsetzung der Vorlage. Das heißt aber auch, dass die Streaming-Serie zu Beginn genauso sperrig daherkommt wie der Roman, und sich Zeit damit lässt, alle Karten auf den Tisch zu legen – ein zentrales Element der Handlung wurde nach den ersten beiden Episoden z. B. noch nicht enthüllt. Gibson-Eingeweihte und Genre-Fans stört das wenig, doch inwieweit Mainstream-Zukunftsreisende durchsteigen oder die nötige Geduld haben, steht wohl auf einem anderen Blatt (William Gibson hat eher keinen Tolkien-Bonus, vermutlich). Durchhalten lohnt sich jedenfalls, denn „Peripheral“ ist Science-Fiction am Puls und auf der Höhe der Zeit, und eine der anspruchsvollen Avatar-Geschichten, die man finden kann.
Im Jahr 2032 lebt Flynne Fisher (überragend: Chloë Grace Moretz aus „Kick-Ass“) mit ihrer kranken Mutter Ella (Melinda Page Hamilton aus „Devious Maids“) und ihrem Kriegsveteranenbruder Burton (Jack Reynor aus „Midsommar“) im amerikanischen Hinterwald in North Carolina. Das Geld ist immer knapp, das Leben stets beschwerlich, Romantik eher eine falsche Hoffnung. Flynnes großes Talent sind Sims, also Simulationen bzw. Videogames. Wenn ihr Bruder bei seinen Aufträgen als Beta-Tester oder Guide für wohlhabende Zocker nicht weiterkommt, übernimmt seine jüngere Schwester und rockt die virtuelle Hütte.
Als sie für einen Auftrag ein neuartiges Peripherie-Gerät aus dem 3D-Drucker erhalten, betritt Flynne dadurch allerdings keine virtuelle Welt. Durch Technologie aus der Zukunft wird sie – zunächst nichtsahnend – in einen menschlichen Roboter-Avatar im London des Jahres 2100 versetzt. Hier erklärt ihr der Problemlöser Wilf Netherton (Gary Carr aus „Death in Paradise“), dass es eine Verbindung zwischen ihren Zeitkontinuen gibt und Flynn ihnen helfen muss – weshalb ihre Familie in ihrer Gegenwart und ihrem Zeitstrang von Söldnern und Gangstern mit fortschrittlicher Technologie bedroht wird. Gut, dass Flynnes Bruder und dessen Armeefreunde trotz vieler Narben selbst über einiges an Drohnen und Feuerkraft verfügen …
Das Team um Showrunner Scott B. Smith („A Simple Plan“, „Siberia“) und Regisseur Vincenzo Natali („Westworld“, „The Strain“, „Locke & Key“) legt mit dem Piloten und der anschließenden Folge einen guten Auftakt vor – ohne Kenntnis des Gibson-Romans wahrscheinlich nicht ganz so leicht zu fassen, wie gesagt, aber trotzdem reizvoll und stimmig. Der Kontrast aus technisiertem Hinterwald und noch höher entwickelter urbaner Zukunft zeichnete bereits das Buch aus, auf der kleinen Leinwand funktioniert er ebenfalls gut: „Peripherie“ sieht klasse aus und vermischt seine Welten, Zeiten und Stimmungen gekonnt. Diese William-Gibson-Mischung hat auch nach dem Transfer in ein anderes Medium einfach etwas Vibrierendes, während Zeitgeist und Zukunft fusionieren.
„Peripherie“ präsentiert sich nach den ersten beiden Folgen als gut inszenierte, gut besetzte und gespielte Adaption mit viel Respekt für den Roman – definitiv streamenswerter Edel-Cyberpunk für Fans von Gibson und Genre.
Peripherie – Staffel 1 • USA, 2022 • Regie: Vincenzo Natali • Darsteller: Chloë Grace Moretz, Jack Reynor, Gary Carr • Folge 1 & 2: 65–72 Min • Amazon Prime
Kommentare