14. Februar 2023 1 Likes

Durchs Nadelöhr

Es wird höchste Zeit, den Markt für künstlerische Arbeit neu zu organisieren

Lesezeit: 5 min.

Wenn andere Schüler Ihrem Kind regelmäßig am Schuleingang das Geld für das Mittagessen wegnehmen, können Sie ihm so viel Geld mitgeben, wie Sie wollen - es wird kein Essen bekommen. Nicht egal ist allerdings, wie viel Geld Sie Ihrem Kind mitgeben, vor allem den Schlägern nicht, die es ausrauben. Womöglich starten die Schläger sogar eine politische Kampagne: „Die Kinder der Jack-Valenti-Grundschule haben Hunger! Die Regierung muss endlich handeln, damit die Kinder mehr Essensgeld bekommen.“

In den USA gibt es fünf große Verlagshäuser und eine einzige Kette von analogen Buchhandlungen. Es gibt einen einzigen großen, weltweit operierenden E-Book-Anbieter (der außerdem über vierzig Prozent aller Printausgaben sowie so gut wie jedes Audiobook verkauft). Landesweit gibt es einen einzigen unabhängigen Buchvertrieb.

Alle diese Firmen wollen einen immer größeren Anteil an den Einnahmen aus der kreativen Arbeit der Schriftsteller. In den Buchverträgen wird immer mehr vom Autor verlangt: die Überlassung der E-Book-Rechte, der Comicrechte, der TV- und Filmrechte, der Auslandsrechte. Dafür erhält er immer weniger Geld. Außerdem erwarten die Konzerne von den Autoren, in sozialen Medien, auf Bücherblogs und Literaturseiten für ihr Werk zu trommeln, während sie selbst die Werbeabteilungen zusammenstreichen.

Die hungrigen Schulkinder sind wir Schriftsteller. Die Kartelle, die bestimmen, wie die Leserinnen und Leser an unsere Werke gelangen, sind die Schläger vor dem Schultor. Das Essensgeld ist das Urheberrecht.

Seit vierzig Jahren nehmen Umfang und Gültigkeitsdauer des Urheberrechts stetig zu. Die Beweisführung bei Urheberrechtsverstößen wurde vereinfacht und die gesetzlich garantierten Schadensansprüche wurden ausgeweitet. Die Buchbranche und die übrige „Kreativindustrie“ scheffelt mehr Geld als je zuvor – und trotz des Urheberrechts und der mit seiner Hilfe erwirtschafteten Gewinne aus geistiger Arbeit ist das Einkommen künstlerisch tätiger Menschen immer weiter gesunken.

Diese Ausweitung des Urheberrechts haben wir zum Großteil den Lobbyisten der Unterhaltungsindustrie zu verdanken – mit Schützenhilfe international bekannter Künstler, die natürlich viel sympathischer als die Konzerne sind, für die sie arbeiten. Wenn Paul McCartney verpflichtende Copyright-Filter fordert, bei denen ein Algorithmus entscheidet, welche Worte, Töne, Bilder und Videos ins Netz gelangen, sind wir natürlich auf seiner Seite. Schließlich soll es den Beatles, die noch nicht gestorben sind, an ihrem Lebensabend an nichts fehlen. Einem Konzern wie der Universal Music Group, zu dessen Eigentümern ein ganzer Heuschreckenschwarm aus Private-Equity-Firmen sowie riesige chinesische Technologiekonzerne gehören, bringen wir weitaus weniger Sympathie entgegen.

Universal ist eines von drei großen Musiklabeln. Die dort unter Vertrag stehenden Künstlerinnen und Künstler werden größtenteils von Radiosendern gespielt, die einer einzigen Firma gehören (iHeartMedia), und treten an Veranstaltungsorten auf, die größtenteils einer einzigen Firma gehören (LiveNation), wobei ein anderer Unternehmensbereich die Eintrittskarten verkauft (Ticketmaster). Die Musik wird auf vier Plattformen gestreamt, von denen nur eine einzige relevant ist: Spotify – ein Unternehmen, an dem wiederum Universal beträchtliche Anteile hält.

Dieses Muster wiederholt sich in jeder Sparte der Unterhaltungs- und Kulturbranche: von der Filmwirtschaft über das Fernsehen bis hin zur Presse. Überall fungieren die Kartelle und Monopolisten als Nadelöhr zwischen den Kreativen und ihrem Publikum, um uns Künstlern die gesetzlich zugesicherten Urheberrechte wieder wegzunehmen. Einige dieser Urheberrechte – etwa Regelschutzfristen oder die Möglichkeit, das Material Dritter aus dem Web zu entfernen – werden als Waffen gegen andere Bereiche der Verwertungskette eingesetzt oder dazu missbraucht, Geld zwischen den Unternehmen hin- und herzuschieben (etwa von einem Streamingdienst zu einem Plattenlabel oder einem Verlag zu einem E-Book-Vertrieb).

Die Schläger vor dem Schultor verschwinden nicht, wenn man seinem Kind mehr Geld gibt. Und die Behauptung der Schultyrannen, ihre leidenschaftliche Forderung nach mehr Essensgeld wäre zum Besten Ihres hungrigen Kindes, ist eine Lüge.

Aber wie werden wir die Schläger am Schultor los?

Indem wir den Markt für geistige Arbeit neu organisieren. Dabei müssen wir uns klarmachen, dass sich unsere Situation nicht verbessern wird, wenn wir unsere Werke einer Verwertungskette zuführen, deren Glieder ausnahmslos monopolisiert sind. Es ist in unserem Interesse, die die Kreativbranche beherrschende Monopolisierung – von den Verlagen, Filmstudios und Plattenlabels bis hin zu den Groß- und Einzelhändlern – zu zerschlagen.

Letztes Jahr habe ich in einem zusammen mit Rebecca Giblin, einer australischen Spezialistin für Urheberrecht, verfassten Buch dargelegt, wie die Entertainment-Monopole den Künstlern ihren gerechten Lohn für ihre geistige Arbeit vorenthalten und mehrere konkrete Vorschläge gemacht, wie dieser beklagenswerte Zustand durch Demonopolisierung der Märkte für geistige Arbeit beendet werden kann. Dieses Buch mit dem Titel „Chokepoint Capitalism“ (auf Deutsch in etwa: Nadelöhr-Kapitalismus) ist ein Plädoyer dafür, die Kreativen aus der unangenehmen Lage zu befreien, sich auf die Seite der Technologiekonzerne oder Content-Produzenten schlagen zu müssen in der Hoffnung, dass uns das Unternehmen, das am Ende den Sieg davonträgt, ein paar Brocken mehr hinwerfen wird.

Ich werde die Maßnahmen, die wir in unserem Buch vorschlagen, an dieser Stelle nicht wiederholen. Hier nur ein Beispiel für eine zielgerichtete Marktintervention, die eine sofortige und tiefgreifende Verbesserung der finanziellen Situation der verschiedensten Künstler weltweit zur Folge hätte: Die meisten Verträge in der Kreativbranche erlauben dem Künstler eine Prüfung, ob seine Umsatzbeteiligung korrekt ausbezahlt wurde. Wenn es allerdings aufgrund dieser Prüfung zu einer Anklage und einem gerichtlichen Vergleich kommt, unterliegt dies normalerweise einer Verschwiegenheitsvereinbarung. Das bedeutet, dass Sie unter Umständen zwar Ihr Geld bekommen, wenn Sie herausfinden, dass Sie von Ihrem Plattenlabel oder Filmstudio über den Tisch gezogen werden – dass Sie aber dafür rechtlich bindend versprechen müssen, Künstlern in einer ähnlichen Situation nicht zu verraten, dass man ihnen Geld vorenthalten hat.

In praktisch allen in den USA abgeschlossenen Künstlerverträgen gelten die Bestimmungen der Bundesstaaten Kalifornien, New York oder Washington (weil Amazon dort sitzt). Die Künstler könnten sich über viele zusätzliche Dollarmillionen freuen, würde man in diesen drei Staaten durch Gesetzesänderungen Verschwiegenheitsvereinbarungen in Fällen von betrügerischen Abrechnungsmethoden gesetzlich verbieten.

Bei unserer Recherche haben wir mit Künstlerinnen und Künstlern gesprochen, die bei ihren Umsatzabrechnungen um sechsstellige Summen geprellt wurden. Die Geschädigten wollten anonym bleiben und uns auch nicht verraten, wie ihre Kollegen an das ihnen zustehende Geld kommen. Wir haben uns mit vielen Kreativschaffenden unterhalten, die ihre Umsatzbeteiligungen prüfen ließen: Sie konnten kein einziges Mal eine Abweichung zu ihren Gunsten feststellen. Wenn es zu einem „Buchhaltungsfehler“ kam, hat immer und ohne Ausnahme ein multinationaler, monopolistischer Unterhaltungskonzern davon profitiert.

Wie könnte es auch anders sein? Die Schläger vor dem Schultor geben sich nicht mit dem Essensgeld zufrieden. Sobald sie uns da haben, wo sie uns haben wollen, nehmen sie sich einfach alles. Es wird höchste Zeit für die Erkenntnis, dass sich die Situation der Künstler nur verbessern wird, wenn man ihre Interessen von denen der Firmen trennt, mit denen sie zu tun haben. Erst wenn wir uns das klargemacht haben, können wir mit Reformen - oder sogar einer Revolution – dafür sorgen, dass Künstlerinnen und Künstler genug zu essen, ein Dach über dem Kopf und eine ordentliche Rente bekommen.

 

Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit seinem Blog, seinen öffentlichen Auftritten und seinen Büchern hat er weltweit Berühmtheit erlangt. Seine Romane sind im Shop erhältlich.

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