„Die Kreatur“ – Herrlich wilder Camp aus Anatolien
„Frankenstein“ mal anders
„Frankenstein“! Ein Thema, bei dem die Erwartungen mittlerweile eher niedrig sein dürften. Natürlich, der 1818 erstmals veröffentlichte Roman von Mary Shelley (im Shop) ist ein zeitloser, immer wieder lesenswerter Überklassiker, keine Frage, aber eben ein Überklassiker, der gigantische Spuren hinterlassen hat: Es existieren unzählige Kino- und Fernsehfilme, Romane, Theaterspiele und Hörspiele, die in irgendeiner Weise auf Shelleys Vorlage basieren. Die bekannteste Adaption ist natürlich James Whales kongeniale Verfilmung von 1931, die ihrerseits zum absoluten, zigfach kopiert- oder zitierten Klassiker mutierte: Beim von Boris Karloff gespielten Monster handelt es sich wohl um eine der berühmtesten Horrorfilm-Ikonen aller Zeiten.
Denkbar schlechte Voraussetzungen für einen weiteren Beitrag also, zumal in Form einer Serie – was soll da noch kommen, was nicht schon da war?
Auch die türkische Produktion „Die Kreatur“ hangelt sich an bekannten Stationen und Motiven von Shelleys epochaler Schöpfung entlang, besticht aber durch eine sehr spielerische Herangehensweise, die eine ganze Reihe interessante, mitunter originelle und überraschende, zum Teil erhebliche Abwandlungen (es empfiehlt sich sehr vor dem Genuss der 8-teiligen Miniserie noch mal den Roman oder zumindest eine detaillierte Zusammenfassung zu lesen) mit sich bringt. Zudem wurde das Geschehen mit etwas Religion angereichert und in ein frisches Setting verlagert, nämlich nach Istanbul zur Zeit des Osmanischen Reichs. Der Name Frankenstein fällt nicht ein Mal, es gibt ebenso wenig irgendwelche Anspielungen, „Die Kreatur“ ist eine Neubearbeitung des klassischen Stoffs, wirkt – auch weil man den Dialogen teilweise einen gewissen literarischen Wert nicht absprechen kann – als ob man das Projekt mit der Frage gestartet hatte, wie die Geschichte aus der Feder einer türkischen Schriftstellerin wohl geworden wäre. Und das Resultat ist so ungewöhnlich ausgefallen, so durchdrungen von Shelleys Geist wie fremdartig und selbst für Zuschauer, die schon zig Adaptionen gesehen haben, unvorhersehbar, dass man die wenigen Längen gerne verzeiht.
Inhaltlich dreht sich alles um den impulsiven, wissensdurstigen Ziya (Taner Ölmez), dessen große Leidenschaft die Medizin ist. Die Leidenschaft wird zur Obsession als seine Mutter an Cholera stirbt. Er hat nach diesem tragischen Vorfall nur noch den Gedanken im Kopf, ähnliche Ereignisse in Zukunft zu verhindern. Doch die Universität ist nicht sonderlich an echter Forschung, an einen Aufbruch in unbekannte Gefilde, interessiert, sondern lediglich am Erhalt des Status Quo. Eines Tages begegnet Ziya aber Ishan (Erkan Kolçak Köstendil), einem verschrobenen Professor, der an der Reanimierung von Toten arbeitet. Ziya schließt sich Ishan an, doch Ishans Versuch mit einer von ihm entwickelten Maschine schlägt fehl – es kommt zu einer Explosion und nicht das Versuchskaninchen kehrt ins Leben zurück, sondern Ishan stirbt. Doch der unmittelbar nach dem Unglück eintreffende Ziya schafft es Ishan zu reanimieren – das Resultat fällt allerdings anders aus, als gedacht …
„Die Kreatur“ ist trotz des fantastischen Kernthemas weniger konventioneller Gruselstoff als hemmungsloser Camp, der sich nicht vor überraschenden Geschmacklosigkeiten scheut – so scheißt sich Ishan nach seinem Widerauferstehung begleitet von einem ordentlichen Furz erstmal ein – und emotionale Momente extradick aufs Brot schmiert. Ebenso wird auf 70er-Jahre-Exploitation-Gedächtnis-Crash-Zooms und herrlich exaltiert spielende Darsteller gesetzt. Wenn Erkan Kolçak Köstendil als Ishan in seinem Labor beim Start der Experiments Richtung Dachkuppel schaut und mit emporgereckten Armen brüllt „Lass es donnern! Lass die Hölle auf uns regnen!“ erinnert das in seiner theaterhaftigkeit natürlich an Colin Clives unvergessliche Frankenstein-Darstellung in Whales Film (wobei genauso Peter Cushing in der Frankenstein-Reihe von Hammer in den Sinn kommt). Taner Ölmez steht dem als arrogant bis kotzbrockiger Wissenschaftsnachwuchs Ziya in Nichts nach. Das macht es für Zuschauer, die auf Sympathiefiguren angewiesen sind, wahrscheinlich erstmal schwierig Zugang zur Serie zu finden. Allerdings verschiebt sich der Fokus nach und nach zunehmend auf Ishan, der sich, ganz im Sinne Shelleys, zur großen, tragischen Figur entwickelt, wobei die Tragik der Figur hier noch gesteigert wurde, denn das „Monster“ darf eine berührende Romanze erleben.
Um es noch mal zu betonen: Am meisten wird man mit der Serie Spaß haben, wenn man Shelleys Vorlage halbwegs im Hinterkopf hat, aber auch so unterhält die ungezügelte, mit einem wunderbaren, ohrwurmigen Soundtrack unterlegte Mischung aus EC-Comic-artigem Horror und Soap Opera prächtig.
„Die Kreatur“ (Türkei 2023) • Regisseur: Çagan Irmak • Darsteller: Taner Ölmez, Erkan Kolçak Köstendil, Sifanur Gül, Bülent Sakrak, Devrim Yakut, Durul Bazan, Aram Dildar • bei Netflix
Kommentare