H.P. Lovecraft: „Gesammelte Werke“
Best-of für Einsteiger
Vielleicht nicht die aber zumindest eine der seltsamsten Schriftsteller-Karrieren aller Zeiten. Der 1937 im Alter von gerade mal 46 Jahren verstorbene Autor Howard Phillips Lovecraft (im Shop), in Fankreisen gern kurz und schlicht HPL genannt, aus Providence, war zu Lebzeiten nahezu unbekannt, hinterließ ein schmales, fast ausschließlich aus Kurzgeschichten bestehendes Gesamtwerk und gelangte nur dank dem Bemühen eines Brieffreundes, den er nie persönlich zu Gesicht bekam, zur posthumen Bekanntheit. Dafür dann aber so richtig, im großen Stil und dauerhaft. Lovecraft hatte nicht nur einen immensen Einfluss auf die fantastische Literatur (wer weiß, was aus Stephen King ohne HPL geworden wäre), sorgte für eine eigene Horrorfilm-Nische mit größtenteils missglückten Filmen (der IMDB-Counter steht momentan bei 253, 25 weitere sind in Vorbereitung) ), die sich in irgendeiner Weise an seinen Geschichten abarbeiten, und ist zudem Teil der Popkultur geworden. Egal ob bei den Simpsons, bei Metallica, „Darkwing Duck“ oder „South Park“ – die Referenzen auf sein Werk sind zahlreich. Die letzten beiden Punkte sind besonders schräg, da der Schriftsteller kein Fan des Horrorkinos war und hoffte, dass seine Sachen niemals verfilmt werden. Außerdem hasste er die Popkultur – er sah sich als Mann aus dem 18. Jahrhundert, war dieser Zeit und ihren Ansichten, noblen Gesten und Umgangsformen zutiefst verbunden und betrachtete das 20. Jahrhundert als eine Zeit der Barbarei.
Lovecraft Arbeiten werden bis zum heutigen Tag veröffentlicht, immer und immer und immer wieder. Nun liegt, veröffentlicht vom Anacaonda Verlag, ein neuer Band mit dem etwas irritierenden Namen „Gesammelte Werke“ (im Shop) – es handelt sich tatsächlich mehr um ein Best-of – vor und die Frage, die natürlich aufkommt lautet: Braucht man das? Die Antwort ist ganz klar: Ja! Vielleicht nicht unbedingt jeder, aber der 790-seitige, erstaunlich günstige Sammelband eignet sich hervorragend für Einsteiger.
Es sind – gelungen übersetzt vom langjährigen Chefredakteur der Perry-Rhodan-Redaktion Florian F. Marzin – zwanzig Geschichten enthalten, darunter alle geliebten Klassiker wie „Pickmanns Modell“, „Die Farbe aus dem All“, „Das Grauen von Dunwich“, „Der Flüsterer im Dunkeln“, „Die Berge des Wahnsinns“ oder „Der Schatten über Innsmouth“.
Und das alles funktioniert trotz des Alters so gut wie eh und je. Heutzutage, angesichts der ganzen Problemfelder dieser Welt, der Umweltkatastrophe, die sich mehr und mehr bemerkbar macht, all der Kriege, der Inflation und weiteres vielleicht sogar besonders intensiv. Denn der Kern von Lovecrafts Schaffen ist seine Philosophie des Kosmizismus, die – verkürzt – besagt, dass es keinen Gott gibt, der Mensch völlig unwichtig, nur ein Staubkorn im Universum, ein Spielball fremder, kosmischer Mächte ist. Das bedeutet in Bezug auf die Geschichten, dass seine Protagonisten meistens in etwas rein geraten, dem sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind und diesen Zustand des Ausgeliefertseins vermittelt kaum einer besser als Lovecraft – die Einsam- und Hilflosigkeit wabert stellenweise regelrecht aus den Seiten, extrem düstere, niederschmetternde, aber eben nun mal leider ziemlich anschlussfähige Gefühle.
Man sieht also: Das Buch ist das perfekte Geschenk zum sich in großen Schritten nähernden Fest der Liebe, der Besinnlichkeit, der Freude und des Friedens!
Der Vollständigkeit halber: Heutzutage darf natürlich kein Text über Lovecraft die weniger erfreulichen und seit einiger Zeit extrem hitzig diskutierten Seiten des Horror-/Science-Fiction-Titanen unerwähnt lassen, denn es ist eine der ganz großen Erkenntnisse unserer Zeit, dass Künstler auch nur Menschen und damit voller Makel sind.
Und ja, Lovecraft hat Zeit seines kurzen Lebens ein paar wenige Texte wie „Das Grauen von Red Hook“ verfasst, die auf die Müllhalde der Literaturgeschichte gehören (und hier selbstverständlich nicht enthalten sind). Dennoch: Wer sich intensiver mit seinem Leben, seinem Werk und seiner umfangreichen Briefkorrespondenz befasst, realisiert schnell wie konfus und unbeständig Lovecrafts Rassismus und Antisemitismus eigentlich war. Dass hier vor allem eigene Defizite, Schwächlich-, Kränklich- und tiefe Ängstlichkeit, überdeckt werden sollten und in anders aussehenden Menschen, Immigranten, eine ideale Projektionsfläche gefunden wurde. Etwas, was Lovecraft mit der Zeit durchaus selbst erkannte, so gestand er dem Schriftsteller Frank Belknap Long: „Sie haben völlig recht, wenn Sie sagen, dass die Schwachen die Starken anbeten. Das ist bei mir genau der Fall.“
Natürlich trifft das wahrscheinlich auf viele Rassisten zu, aber ein derart inkonsistentes Verhalten findet man dann doch eher selten. Er sonderte zwar abscheuliche Dinge über Juden ab, aber er führte nicht nur eine wohlbekannte Kurz-Ehe mit einer jüdischen Immigrantin aus Russland, sondern war Mentor für junge jüdische Schriftsteller wie Robert Bloch und eng mit dem jüdischen und sogar – Lovecraft war ebenso homophob – schwulen Poeten Samuel Loveman befreundet. Des Weiteren befasste er sich in seinem Essay „Das übernatürliche Grauen in der Literatur“ völlig vorurteilsfrei und voller Anerkennung mit der jüdischen Folklore und machte in seiner Literatur in seinen letzten Jahren eine gewisse Kehrtwende: Aus der Angst vor wurde allmählich die Faszination am Fremden und das bezeichnenderweise nachdem er das Fremde persönlich kennen gelernt hatte.
Ein besonders anschauliches Beispiel stellt das Finale der 1931 – sechs Jahre vor seinem Tod – geschriebenen Geschichte „Der Schatten über Innsmouth“ dar. Hier dreht sich alles um einen gerade volljährig gewordenen, jungen Mann, der eine Reise durch Neuengland macht und dabei in die gespenstische Kleinstadt Innsmouth gerät, die er abends eigentlich wieder verlassen will. Doch der Bus zur Rückreise hat einen Motorschaden, weswegen der Gestrandete gezwungenermaßen die Nacht in einem örtlichen Hotel verbringen muss, wo er in letzter Sekunde den Einwohnern, bei denen es sich nicht um gewöhnliche Menschen, sondern Fisch-Frosch-Hybriden handelt, die Jagd auf ihn machen, entkommen kann. Wobei im Unklaren gelassen wird, inwieweit die Bewohner eigentlich tatsächlich eine Gefahr darstellen, letztendlich flieht er vor einer ziemlich diffusen Bedrohung, die nach einer Ohnmacht seltsamerweise verschwunden ist. Doch er muss am Ende der Geschichte im Zuge einer Ahnenforschung entdecken, dass ihn mit seinen vermeintlichen Verfolgern mehr verbindet als ihm lieb ist – er ist nämlich einer von ihnen und nimmt allmählich deren Aussehen an. Aber das Ende ist so unheimlich wie ungewohnt versöhnlich, er erschießt sich nicht, wie sein Onkel, der die gleiche Erfahrung machen musste, sondern will seinen Cousin, bei dem die Verwandlung bereits weiter fortgeschritten ist, aus der Irrenanstalt befreien und „zusammen werden wir ins von Wundern überschattete Innsmouth gehen. Wir werden zu diesem dräuenden Riff im Meer schwimmen und durch schwarze Abgründe hinab in das zyklopische und säulenreiche Y’ha-nthlei tauchen und in dieser Wohnstatt jener in der Tiefe inmitten von Wundern und Pracht ewig leben.“ Er nimmt das Fremde also an, blickt ihm freudig entgegen, versinkt – im Wortsinn – in ihm.
Es wäre interessant gewesen, zu erfahren, welche Sinneswandel Lovecraft noch durchgemacht hätte, wäre er 86 geworden und nicht im Alter von gerade mal 46 Jahren verschieden. Gelegentlich dauert’s etwas, aber Menschen können sich ändern. Sogar sehr. Vielleicht wird das ja die nächste große Erkenntnis.
H.P. Lovecraft: Gesammelte Werke • Aus dem Englischen von Florian F. Marzin • Anaconda Verlag, München 2023 • 790 Seiten • gebundene Ausgabe • € 12,95 • im Shop
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