24. Juni 2024

Mary Shelley/Bernie Wrightson: „Frankenstein“

Jahrhundertroman, illustriert vom Jahrhundert-Comiczeichner

Lesezeit: 3 min.

Frankenstein. Es wäre schön, wenn die Wissenschaft eines Tages die 1851 verstorbene Mary Wollestonecraft Shelley wieder zum Leben erwecken könnte. Zumindest mich würde es interessieren, wie die britische Schriftstellerin angesichts der Erkenntnis, dass ihr im Alter von zarten 21 Jahren veröffentlichtes Debüt zu einem der literaturhistorisch und popkulturell einflussreichsten Romane der letzten zwei Jahrhunderte geworden ist, reagieren würde. Es gibt nicht viele Bücher, die die Fantastik derart beeinflusst haben, selbst nach solch einer langen Zeit ungebrochen faszinieren.

Selbst wer das Buch nicht kennt, wird auf irgendeine Weise ganz bestimmt schon mal mit dem Stoff in Berührung gekommen sein. Zum Beispiel feierte erst letztes Jahr Regisseur Giorgos Lanthimos mit seiner feministischen „Frankenstein“-Variante „Poor Things“ einen großen Erfolg. Und aktuell, angesichts der Allgegenwärtigkeit des Themas künstliche Intelligenz, ist die Faszination natürlich umso größer, denn Shelleys Monster dürfte eine der wohl ältesten Darstellungen einer künstlichen Intelligenz sein (hier ein lesenswerter Essay dazu) und im Roman geht der Versuch Gott zu spielen jedenfalls nicht gut aus. Schauen wir mal, was die Realität bringt.

Man braucht wohl kaum zu erwähnen, dass es hierzulande eine Menge verschiedenartige Ausgaben gibt, die Geschichte ist Public Domain, im Prinzip kann jeder „Frankenstein“ veröffentlichen. Überraschend ist, dass uns eine der wohl besten, wenn nicht sogar die beste Edition erst jetzt erreicht und vor wenigen Wochen still und leise beim kleinen Wandler-Verlag veröffentlicht wurde. Hierbei handelt es sich um eine von Comiczeichner Bernie Wrightson illustrierte Version, die erstmals 1983 in den USA von Marvel veröffentlicht wurde und längst als Meisterwerk gilt.

Der 2017 verstorbene Autodidakt, der sich das Zeichnen mittels der TV-Serie »Learn To Draw« (1950–1955), in der Jon Gnagy – praktisch der Vorläufer von Bob Ross – den Zuschauern Kunstunterricht gab, selbst beibrachte, liebte „Frankenstein“ und begann 1977 ganz ohne Auftrag Illustrationen zu Shelleys Text zu anzufertigen. Zunächst war eine Comic-Adaption angedacht, aber Wrightson hatte Bedenken dem Roman nicht gerecht zu werden und beschränkte sich auf Zeichnungen zu bestimmten Stellen. Das Ausnahmetalent orientierte sich dabei aber nicht an den Darstellungen in der berühmten US-Verfilmung von James Whale von 1931 oder der britischen Verfilmung von 1957, deren Bilder den Roman ein wenig überlagert hatten, sein Ziel war ehrgeiziger: Er wollte die Bilder kreieren, die Shelley vor Augen hatte, während sie ihr Meisterwerk schrieb.

Ob ihm das gelungen ist, wird Shelley angesichts der rasanten, wissenschaftlichen Entwicklung in ein paar Jahrzehnten vielleicht beantworten können, bis dahin lässt sich aber definitiv attestieren, dass die Bildtafeln wirklich ungemein beeindruckend sind. Derart beeindruckend, dass im Dezember 2019 die Originalzeichnung des Covers der Marvel-Ausgabe für satte 1,2 Millionen Dollar versteigert wurde.

Wrightson ungemein detaillierte Tuschezeichnungen erweitern die Geschichte um eine zusätzliche Tiefe, transportieren Gefühle wie Einsamkeit, Isolation, Besessenheit, Wahn, erhalten durch den Text teilweise eine reizvolle Ambivalenz. So ist in der berühmten Laborszene, von der ein Ausschnitt sowohl auf dem Cover der Marvel-Ausgabe abgebildet ist, als auch das Cover der Wandler-Veröffentlichung ziert und in Gänze aus einer umwerfenden Doppelseite besteht, die Gut-/Böse-Rollenverteilung auf dem ersten Blick klar, gerät aber durch die entsprechende Textpassage ins Wanken.

Es sind Bilder, die sich ins Gedächtnis brennen und „Frankenstein“ zu einer neuen, faszinierenden Erfahrung machen. Wie schön, dass der Verlag diesem Meisterwerk Rechnung getragen und eine edle Edition spendiert hat: Hochwertiges Papier, dreiseitiger Goldschnitt, Leseband, Bonus: Einleitung von Stephen King (im Shop), Shelleys Einleitung zur Ausgabe von 1831 und ein Essay von Margaret Brantley. Was Besseres wird’s nicht geben, weil schlichtweg nicht mehr überbietbar.

Tipp: Wer den Roman noch nicht kennt und nicht sicher ist, ob er gleich 50 Euro locker machen will, kann sich ja hier in unserem Shop mal umschauen und sich erstmal eine der ebenfalls guten, aber dennoch äußerst preisgünstigen Versionen bestellen.

Abb.: Bernie Wrightson/Marvel/Wandler.

Mary Wollstonecraft Shelley, Bernie Wrightson: Frankenstein • Übersetzt von Heinz Wiedtmann, bearbeitet von Michael Schmitt. Zusatzmaterial übersetzt von Michael Siefener • Wandler Verlag, Wendorf 2024 • 240 Seiten • Hardcover: € 49,95

 

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