„Die letzte Heldin“
Emily Teshs fesselndes, preisgekröntes SF-Debüt
Einige Jahrzehnte sind vergangen, nachdem die Majoda die Erde ausgelöscht haben – und mit ihr das Leben von 14 Milliarden Menschen. Die letzten Überlebenden hat es auf die Raumstation Gaia verschlagen. Von hier aus planen sie, den Aliens eines Tages gehörig in den Hintern zu treten. „Solange die Kinder der Erde leben, soll der Feind uns fürchten!“, lautet nicht umsonst das Motto der Station. Für Kyr ist klar: Sie ist bereit, ihr Leben zu opfern. Doch wie so oft kommt alles anders als man denkt – und die Jugendliche muss sich alsbald die Frage stellen, ob ihre Vergangenheit und Gegenwart nicht auf einer großen Lüge basieren.
Wer mit dem Internet groß geworden ist, kennt sie: die Trigger-Warnung. Auch bei Spielen ist es längst gängige Praxis, nicht nur vor Epilepsie zu warnen. Inzwischen weisen Piktogramme und Texte auf den Verpackungen auch auf belastende Themen oder Fantasy-Gewalt hin. Und bei Büchern? Dort finden sich immer öfters Hinweise über Motive, Handlungen und Aspekte, die Leser:innen vor möglichen Auslösereizen warnen sollen. Die Liste bei Emily Teshs „Die letzte Heldin“ (im Shop) ist lang: Von sexistischen und homophoben Handlungen über sexuellen Missbrauch und missbräuchliche Radikalisierung von Kindern bis hin zum Suizid reicht die Bandbreite. Hier erwartet Leser:innen also eine Geschichte, die den Finger in die Wunden unserer Zeit legt – und ordentlich weh tun kann.
Hauptfigur ist die 17-jährige Valkyr, die nur Kyr genannt wird. Wie alle Kinder und Jugendlichen lebt und trainiert sie für den Ernstfall mit Gleichaltrigen. Und Kyr ist als Beste ihres Jahrgangs gnadenlos, erwartet von ihren Mitstreiterinnen im Haus Sperling die gleiche Opferungsbereitschaft und den selben Ehrgeiz wie von sich selbst. Sie hat die Ideologie Gaias verinnerlicht wie keine zweite – und wäre auf dem Schlachtfeld die perfekte Kampfmaschine gegen die körperlich deutlich unterlegenen Majoda.
Als es am Ende ihrer Ausbildung jedoch an die Zuordnung der Mädchen in ihren jeweiligen Aufgabenbereich geht, bricht für Kyr die Welt zusammen. Sie soll in die Krippe. Statt auf dem Schlachtfeld zu kämpfen, wird sie als Mutter für die perfekten Soldaten auserkoren. Ausgerechnet sie! Nachdem ihr bedeutend stärkerer Bruder Magnus angeblich seine Zuordnung verweigert und die Station als Verräter verlassen hat, kommen ihr erstmals Zweifel am System. Fest entschlossen, den sensiblen Mags vor Unheil zu bewahren, begibt sie sich mit dem queeren Technikgenie Avi und dem gefangenen Außerirdischen Yiso auf eine Rettungsmission durch Raum und Zeit.
Kyr ist als Heldin alles andere als sympathisch. Sie ist das blonde Gift, das über Leichen geht – und das voller Inbrunst für Gaia sterben würde, denn wofür lohnt es sich sonst zu leben? Dass sie ein Opfer eines faschistoiden Systems ist, ahnt sie zunächst nicht. Dabei wurde sie von Kindesbeinen an indoktriniert und auf Hass gepolt: Hass auf alle, die keine Menschen sind oder sich den strengen, heteronormativen Vorgaben der Station entgegenstellen. In dem „Wir gegen die“-Denken der Gaianer:innen spielt es daher keine Rolle, dass die Majoda keine „Rasse“, sondern ein Zusammenschluss aus vielfältigen Spezies sind. Oder das Menschen wie Avi als „queer“ beschimpft werden, weil sie weder dem Soldat:innen-Ideal entsprechen noch heterosexuell sind.
Deutsche Leser:innen erkennen Seite für Seite Parallelen zwischen der Raumstation und dem Dritten Reich. Als blonde Zuchtkrieger:innen gehen Kyr und ihr Bruder als Arier:innen und perfekte Soldat:innen durch – auch wenn damals Frauen an den Herd und nicht an die Front gehört haben. Inspiration fand die Britin Emily Tesh aber nicht nur in der langen Geschichte des Faschismus, dessen Züge sich bereits in einem antiken Stadtstaat wie Sparta wiederfinden. Vor allem angelsächsische Leser:innen dürften den Originaltitel „Some Desperate Glory“ einzuordnen wissen. Die Zeile stammt aus dem Gedicht „Dulce et Decorum est“ von Wilfried Owen, einem der soldier poets des ersten Weltkrieg, der eine Woche vor dem Waffenstillstand an der Front fiel.
Darin lässt Owen ein Zitat des römischen Dichters Horaz einfließen: „My friend, you would not tell with such high zest // To children ardent for some desperate glory, // The old Lie: Dulce et decorum est // Pro patria mori.“ (Übersetzung nach Wikipedia: „Mein Freund, du erzähltest nicht mit so großer Lust // Kindern, die nach einem verzweifelten Ruhmesglanz dürsten, // die alte Lüge: Süß und ehrenvoll ist’s // für’s Vaterland zu sterben.“). „Kindern, die nach einem verzweifelten Ruhmesglanz dürsten“ passt als Zeile zu Kyrs Einstellung genauso wie der Wunsch, fürs Vaterland zu sterben. Nicht umsonst wurde Horaz’ Satz mehr als einmal in der Menschheitsgeschichte für propagandistische Zwecke missbraucht.
Was Owen und Tresh in ihren Werken beide betonen, ist der Aspekt der Lüge: Bis heute werden Menschen durch Unwahrheiten zum Handeln bewegt oder gezwungen. Dafür reicht mitunter ein Blick auf die aktuelle Nachrichtenlage. In „Die letzte Heldin“ muss Kyr jedoch erst lernen ihre ideologischen Scheuklappen abzulegen, um zu einer Heroin heranreifen zu können, die den Gaianer:innen eine echte Zukunft im All ermöglicht. Dabei muss sie sich mit mehr als einer für sie unbequemen Wahrheit auseinandersetzen: Wieso hat damals ihre ältere Schwester Gaia als Verräterin verlassen? Wieso verheimlicht die Station die Existenz weiterer Menschen im Universum und zwingt stattdessen Frauen, Kinder zu gebären? Und wie ist der Beschützerinstinkt einzuordnen, den Kyr gegenüber ihrem Mit-Sperling Lisabel hat?
„Die letzte Heldin“ ist ein zurecht mit dem Hugo-Award geadelter Roman, der vor allem Freund:innen der soft science-fiction anspricht. Tesh legt mit ihrem Sci-Fi-Debüt eine mitreisende, actionreich erzählte Coming-of-Age- und Coming-Out-Geschichte vor. Es ist Science-Fiction, wie sie sein sollte: Verwurzelt in unserer Vergangenheit und Gegenwart stellt sie die Frage, wie wir das Hier und Jetzt zu einem besseren Ort machen können. Wer Held:innen mag, die sich auf ihrer Reise tatsächlich wandeln, ist hier ebenfalls goldrichtig. Denn die geht – wie Eingangs beschrieben – durch Raum und Zeit. Im Hintergrund werkelt die Weisheit, die mächtige KI der Majoda. Und sie ermöglicht es Kyr, die Menschheitsgeschichte um ein weiteres Kapitel zu erweitern. Ob es ihr gelingen wird, eine Welt zu erschaffen, in der für Hass keinen Platz ist, können Leser:innen hierzulande seit Juni auf Deutsch nachlesen.
Emily Tesh: Die letzte Heldin • Roman • Aus dem Amerikanischen von Nina Lieke • Heyne, München 2024 • 560 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des Paperbacks 18,00 € • im Shop
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