„Brutalist Japan“ – Filigrane Härte
Ein Überblick über brutalistische Architektur in Japan
Filigrane Holzgebäude, Schiebetüren aus Reispapier, Tatmaimatten. So mag man sich die klassische japanische Architektur vorstellen, aber das mit Tadao Ando einer der bekanntesten zeitgenössischen Architekten des Landes eine Vorliebe für Beton hat, deutet schon an, dass in Japan auch andere Materialien gerne verwendet werden.
Etliche Gebäude von Ando finden sich auch in Paul Tuletts Bildband „Brutalist Japan“ (im Shop), in dem der seit einigen Jahren in Okinawa lebende Fotograf einen fast schon zu umfassenden Überblick über Betonbauten Japans liefert. Über 100 Gebäude finden sich auf den 240 Seiten, was bedeutet, das etliche nur auf einer Seite, mit einem oft etwas nichtssagenden Foto abgebildet werden. Der Sammeleifer scheint hier etwas mit Tulett durchgegangen zu sein, der gerade auf der südlichen japanischen Insel Okinawa – bekannt nicht zuletzt durch die riesige amerikanische Militärbasis, die dort nach Ende des Zweiten Weltkrieges entstand – auch viele kleine Wohnhäuser in brutalistischem Stil fand, die allerdings von Außen eher unscheinbar wirken.
Ohnehin scheint die Entscheidung, ob Gebäude nur auf einer Seite oder auf bis zu sechs Seiten vorgestellt werden, nicht zuletzt davon bestimmt worden zu sein, ob Tulett sie betreten konnte oder nicht. Eine von Tadao Ando entworfene Bibliothek für Kinderbücher etwa, die nicht nur des Beton wegen etwas abweisend wirkt, wird in zwei Außenansichten gezeigt. Ein riesiger, wie ein überdimensionierter Schornstein wirkender Kubus dominiert das Gebäude, doch wie sich Bücher oder gar kindgerechte Einrichtungen in das Betonkonstrukt fügen, lässt sich durch das Fehlen von Einblicken in die Innenräume leider nicht nachvollziehen.
Seltsamerweise ist auch eines der einflussreichsten brutalistischen Bauwerke Japans nur von Außen zu sehen, das 1959 von Le Corbusier entworfene Museum westlicher Kunst, mit dem der legendäre schweizerisch-französische Architekt das Bauen in Beton im fernen Osten etablierte. Die Beschränkung auf die Außenfassaden wirkt umso bedauerlicher, da es oft gerade die Details sind, die brutalistische Gebäude so bemerkenswert machen.
Die lassen sich zum Beispiel bei einer U-Bahn Station in Kyoto bewundern, die Wakabayashi Hiroyuki als modernes Zitat traditioneller Tempel gestaltet hat: Bögen und Durchgänge formen sich zu einem Geflecht an Räumen, dessen wabenhafte Decken die Härte des Material fast organisch wirken lassen.
Hier mag man den besonderen Umgang japanischer Architekten mit dem Beton sehen, eine Verknüpfung japanischer Ästhetik, in denen klare Formen im Mittelpunkt stehen, mit einem auf den ersten Blick abweisenden, unwirtlichen Material. Gleichzeitig perfekt, aber doch natürlich sollen etwa japanische Gärten wirken, eigentlich ein Widerspruch, aber auch wieder nicht. Die Natur gestalten, aber nicht dominieren, vielleicht liegt darin auch das große Interesse für brutalistische Bauten in Japan verborgen.
Gerade auf den vom tropischen Klima geprägten südlichen Inseln wie Okinawa erweist sich das Bauen in Beton allerdings auch als praktische, pragmatische Lösung. Und das in diesem Klima Beton schnell Patina annimmt, unterstützt das Bedürfnis nach wabi-sabi, der Schönheit im Imperfekten.
So wie das Rathaus der Stadt Nago auf Okinawa, Brutalismus in seiner verspieltesten Form. Säulen und Streben geben Rankpflanzen Halt, die das Äußere des Gebäudes zu weiten Teilen zugewuchert haben. Zwischen Stadt und Natur scheint dieser Bau zu existieren, wie ein monumentaler Klotz, der aber gleichzeitig von der Natur zurückerobert wird.
Paul Tulett: Brutalist Japan • Sachbuch • Prestel, München 2024 • 240 Seiten • Hardcover • € 45,00 • im Shop
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