Uwe Schütte: „Wir sind die Roboter – Kraftwerk und die Erfindung der elektronischen Pop-Musik“
Ultimatives Buch zu Deutschlands ultimativer Band
Wer Bock auf Krawall in einer Kulturgastronomie hat, wirft bei einem Bier am besten die Frage auf, ob Kraftwerk nicht womöglich weitaus einflussreicher als die Beatles gewesen sind. Erhitzte Gemüter in kürzester Zeit garantiert. Denn in der Rezeption von Kraftwerk manifestiert sich bis heute eine gewisse Herablassung gegenüber den Machern elektronischer Musik, den „Tastendrückern“ – nur Musiker mit akustischen Instrumenten, die mit emsiger Hingabe bearbeiten werden, sind echte Musiker!
Ein dümmliches Vorurteil, mit dem die 1970 formierte Band schon früh konfrontiert wurde, das sich bis heute hält und das auch Uwe Schütte in seiner exzellenten, 384-seitigen Auseinandersetzung mit Kraftwerk aufgreift, um es zu widerlegen. So statisch und rätselhaft das Quartett auf der Bühne wirkt: es wird tatsächlich live gespielt.
Schüttes „Wir sind die Roboter“ (im Shop) geht aber natürlich weit über Kleinklein dieser Art hinaus. Der Autor, Kulturessayist und Musikjournalist mit Germanistik-Background hatte bereits in der Vergangenheit zu Kraftwerk veröffentlicht und auf Symposien über die revolutionäre, zusehends multimedialer gewordene Kunst der Düsseldorfer Musiker gesprochen. Schütte ist also ein akademisch gebildeter Kenner der Materie, der aber einen etwas anderen Ansatz verfolgt.
So weist er darauf hin, dass es sich bei seinem Werk um kein Fanbuch, um kein musikjournalistisches Werk, um keine Bandbiografie und um keine kulturwissenschaftliche Studie, sondern „schlichtweg um einen weiteren Versuch handelt, Kraftwerk für mich selbst zu begreifen und meine Ansichten und Einsichten mit anderen zu teilen.“
Und seiner Ansicht nach handelt es sich bei Kraftwerk um „eine multimediale Kombination aus Klang und Bild, Image und Styling, Grafikdesign und Aufführungspraxis“, um ein „popkulturelles Gesamtkunstwerk“. Das hat zur Folge, dass sich der Autor zwar ausgiebig den Musikveröffentlichungen widmet, aber – was in bisherigen Betrachtungen kaum zur Sprache kommt – eben auch weiteren Aspekten, wie zum Beispiel der Gestaltung der Konzerte über die Jahrzehnte, näheren Betrachtungen unterzieht.
Anders als bei anderen Publikationen fächert Schütte seinen Stoff dabei nicht in chronologischer Abfolge auf, sondern hangelt sich an einer thematischen Gliederung entlang. Innerhalb der einzelnen Bereiche bewegt er sich dann zwar überwiegend chronologisch vorwärts, aber es werden eben Alben wie „Autobahn“ (1974), „Trans Europa Express“ (1977) und „Tour de France“ (2003) in einem Abschnitt behandelt, da „die Platten durch das Motivgeflecht Kinetik-Geschwindigkeit-Propulsion miteinander verbunden sind, dass dabei auf jeweils andere Weise in eine vorwärtstreibende, maschinell-motorische Musik übersetzt wird“.
Dabei wird trotz der Versicherung Schüttes, dass es sich um keine Studie handelt und er auf gute Lesbarkeit achtet, Jargon nur wenn nötig verwenden will, schnell klar, dass er den Akademiker nicht ganz im Schrank lassen kann, zumindest für Begriffe wie „Propulsion“ hätte man das wohl weitaus gängigere Wort „Antrieb“ nehmen können.
Das schmälert das Vergnügen an diesem ungemein dicht gewebten Buch aber nicht im Geringsten – zu dankbar ist man für das breite Angebot an detaillierten Informationen und faszinierenden Analysen, in deren Verlauf es immer mal wieder zu längeren Bögen kommt, in denen unter anderem der kulturhistorische Tradition von Kraftwerk oder der Einfluss der Düsseldorfer Kunstszene nachgespürt wird.
Es ist von der ersten bis zur letzten Seite mehr als deutlich, dass Schütte Kraftwerk liebt und sich viele Jahre ungemein intensiv mit diesem weltweit wahrscheinlich bekanntesten deutschen Popkulturphänomen auseinandergesetzt hat, dessen Einfluss auf die Geschichte der elektronischen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts man gar nicht überschätzen kann.
Von Afrika Bambaataa über Depeche Mode bis hin zu Aphex Twin, überall finden sich die Spuren von Kraftwerk. Genres wie Synthiepop, Techno, House, Electro oder Hip-Hop hätten sich ohne die kühlen Deutschen mit dem ingenieurhaften Auftreten höchstwahrscheinlich ganz anders oder vielleicht sogar überhaupt nicht entwickelt.
Gut, letzteres gehört praktisch schon zum Bildungskanon, das Schöne ist aber: Schütte schafft es wirklich greifbar zu machen, warum dem so ist, warum Kraftwerk durch und durch bahnbrechend waren und dürfte damit gleich zwei Zielgruppen zufrieden stellen. Langjährige Fans werden sicherlich noch die ein oder andere Erkenntnis mitnehmen und Leser, die die Band zuvor vielleicht nur durch die großen Hits wie „Das Model“ kannten, werden nach der Lektüre begeistert alles aufsaugen, was Kraftwerk je fabriziert hat.
Besser geht kaum.
Uwe Schütte: Wir sind die Roboter • Sachbuch • btb, München 2024 • 384 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des Paperbacks: € 18,00 • im Shop
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